Gestern ist dann doch noch die lang angekündigte Nummer 37 der „von Hundert“ erschienen. Ein Heft zu Klassenfragen, aktuellen Klassismusdebatten in der Kunst und sonst im Raum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Auch darin enthalten: zwei Artikel zur Noisy-Leaks!-Ausstellung vom letzten Herbst.

Einer ging so:

Laut die richtigen Fragen stellen

Die Vernissage von „NoisyLeaks! The Art of Exposing Secrets” am Abend des 7. Oktober ist gut besucht, die Stimmung trotz der Ernsthaftigkeit des behandelten Themas ausgelassen. Viel haben die Macher:innen sich vorgenommen: Während der dreiwöchigen Laufzeit will die Ausstellung mit ihrem Begleitprogramm aus Filmen und Performances einen breiten Überblick über Kunst- und Aktionsformen geben, die sich mit Geschichte und Praktiken der Geheimnisenthüllung in Zusammenhang und in der Nachfolge von WikiLeaks beschäftigen. Außerdem soll ein Forum geboten werden, um sich über Erfahrungen und Techniken rund um Leaks auszutauschen und ausgiebig die Informationsfreiheit zu feiern und zu fördern. Neben der Unterstützung des immer noch in einer britischen Gefängniszelle auf die drohende Auslieferung an die USA fürchtenden WikiLeaks-Gründers Julian Assange geht es darum, die Pressefreiheit hochzuhalten und laut einen breiten kämpferischen Einsatz für Transparenz und gegen staatliche und wirtschaftliche Geheimpolitiken zu fordern – also um Ziele, die sich durchaus positiv feiern lassen.

Im vorderen Teil des Projektraums 145 in der Invalidenstraße fällt, wenn das im Gedränge der Eröffnung möglich ist, der Blick auf Arbeiten seit längerem vertrauter Protagonist:innen einer gleichermaßen in politischem Aktivismus wie im Pop verwurzelten Kunstszene. Neben einer Videoinstallation von Hito Steyerl, für die geneigte Besucher:innen sich eine gute halbe Stunde Zeit nehmen müssten, um sie wenigstens einmal ganz anzuschauen und -zuhören, gibt es unter anderem zwei malerische Arbeiten von Daniel Richter. Die eine zeigt in Öl auf Leinwand die ikonografische Fotografie aus dem Situation Room des Weißen Hauses, auf dem Präsident Obama und sein Stab die Operation „Neptune Spear“ verfolgen. In ihrem Rahmen wurden, wie Wikipedia zusammenfasst, „im pakistanischen Abbottabad Osama bin Laden, der Gründer und Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida, sowie vier weitere Personen von Mitgliedern der US-amerikanischen Spezialeinheit DEVGRU getötet.“ Richter ergänzt das Bild um die akkurate Zeichnung dreier Affen zur Collage, die jedoch nicht wie tradiert Augen, Ohren und Mund geschlossen halten, sondern im Gegenteil ihre artistische Kunstfertigkeit nutzen und, was sie hören und sehen, auf Leinwand bannen. Es geht um den politisch-agitatorischen Auftrag der Kunst, offenzulegen, was an Skandalösem in der Welt geschieht. Das zweite Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand – wie das erste mit „untitled“ überschrieben – stellt den Blick durch einen runden Ausschnitt in einer Mauer auf den Rücken einer durch einen Schatten gedoppelten Gestalt in Kapuzenjacke dar. Als Aufschrift ist auf der Jacke „Fuck the Police“ zu lesen, das Ganze ist eine Variation eines früheren Werkes, das 2007 das Plattencover der LP „Lenin“ der zum Agitpop-Musikkollektiv weiterentwickelten ehemaligen Punkband Die Goldenen Zitronen zierte. So ergibt sich eine Rückbindung an die seit Anfang der 90er-Jahre einsetzende Repolitisierung der Kunst- und Musikszene durch die damaligen Zusammenschlüsse Aktiver in so genannten Wohlfahrtsausschüssen unter anderem in Frankfurt, Köln und Hamburg. Bei aller damaliger Kritik an deren „Besserwessitum“ setzten sie und die Projekte in ihrem Umfeld Standards für eine neue, direkt auf politische Missstände reagierende und sich einmischende politische Kunstpraxis, die sowohl die eigenen Produktionsbedingungen mitdenken und theoretisch auf der Höhe der Zeit bleiben wollte.

Ebenfalls in dieses Umfeld gehört die Künstlerin Melissa Logan, die nicht nur mit der Soundinstallation „My Bucket Has A Hole In It For Noisy Leaks“ zur spielerischen Nutzung durch Ausstellungsbesucher:innen vertreten ist, sondern auch Stücke ihrer Band Chicks on Speed performt. Fühlt sich an wie, sagen wir, 2008, und wird von der Menge gutgelaunt goutiert.

Neben vielen weiteren Arbeiten namhafter Künstler:innen wie Sarah Lucas und dem notorischen Ai Weiwei, der zusammen mit Jacob Appelbaum einen mit geschredderten Snowdon-Papers und einer aus China geschmuggelten SD Memory Card ausgestopften Stoffpanda ausstellt, gibt es eine Reihe interessanter Installationen.

Etwa „Call a Spy“ von Peng!, einem in Montreal, Maryland, Moskau, Cheltenham und Berlin lebenden und arbeitenden Media-Art-Kollektiv. Für diese Arbeit haben sie 30.000 Telefonnummern von Mitarbeiter:innen privater und staatlicher Sicherheitsdienste aus verschiedenen Staaten zusammengetragen. Von der installierten Telefonzelle aus soll man sie anrufen und ihnen – unter Anleitung durch Flyer, die denen zu Aussteigerprogrammen aus der rechtsextremen Szene nachempfunden sind – helfen, ihren Job hinter sich zu lassen.

Auch „WarCrimes-o-Matic“ bezieht seine Nutzer relativ drastisch ins geheimpolitische Geschehen ein. Seine Schöpfer vom Institute for Dissent & Datalove haben eine robuste Munitionsbox der US Armee umfunktioniert und mit einem herausfordernd roten Knopf an der Oberseite versehen. Mitarbeiter:innen des Projektraums warnen die Gäste davor, ihn zu drücken. Das Ergebnis könne „violence, death and war crimes“ beinhalten. Wer es dennoch tut, erhält einen Kassenbon-artigen Ausdruck. Aus seinem Text geht hervor, dass man sich gerade eines Verbrechens schuldig gemacht hat: allein durchs Lesen des angeforderten Inhalts wird man Teil einer Verschwörung. Weiter enthält das Papier telegrafisch zusammengefasste Beschreibungen von Kampfhandlungen einschließlich der summarischen Auflistung der Zahlen daraus resultierender Toter und Verwundeter. Es sind die von WikiLeaks veröffentlichten Aufzeichnungen des US-Militärs, die hier auf Knopfdruck gedruckt und damit vervielfacht wurden.

Vom Institute for Dissent und Datalove, das sich selbst als losen und eigentlich nicht-existenten Zusammenschluss von Hacker:innen, Kunstschaffenden, Aktivist:innen und Bastlern beschreibt, stammt auch das eigentliche Herzstück der Ausstellung. Unter dem Titel „Secret+Noforn“ sind in einem Regal in 66 dicken Bänden diplomatische Nachrichten nachzulesen. Für die Ausstellungsbesucher:innen greifbar wird hier eine Auswahl der über 250.000 Botschaftsdepeschen, die WikiLeaks ab 2010 unter dem Namen „Cablegate“ veröffentlichte. Abgedruckt sind ausschließlich jene Nachricht, die als geheim und nicht für die Weitergabe an ausländische Staatsbürger (einschließlich solcher befreundeter Staaten) eingestuft wurden, also vermeintlich besonders brisante Aufzeichnungen beinhalten. Chronologisch finden sich von 1966 bis 2010 Tag für Tag und Monat für Monat aufgelistet Berichte und Lagebeurteilungen von US-Botschaften weltweit an ihr Außenministerium: die zu Geheimsachen erklärten Beurteilungen der Welt durch die Mächtigen, deren Veröffentlichung WikiLeaks und Whistleblower sich zum Ziel gesetzt haben.

Durch eine Datenpanne waren die ‚Cablegate‘-Dokumente, die zunächst nur in Zusammenarbeit mit Journalist:innen stückweise veröffentlicht wurden, im Herbst 2011 unredigiert an die Öffentlichkeit gekommen und haben so wie kein anderes Leak das Gefahrenpotential unkontrollierter Veröffentlichungen sichtbar gemacht. Die Transparenz staatlichen Handelns zur Gewährleistung politischer wie auch strafrechtlicher Verantwortung von Regierenden und Staatsbediensteten muss in weitsichtiger Verantwortung im Umgang mit Daten geschehen, die Individuen wie Informant:innen oder sogenannte ausländische Mitarbeitende gefährden können. Gleichzeitig darf die Diskussion um reelle oder vermeintliche Gefahren von Veröffentlichungen nicht die Befassung mit den dokumentierten Verbrechen und Fehlverhalten von Regierenden überdecken. Wie lassen sich Strukturen eines verantwortungsvollen Umgangs mit Geheimdokumenten weiter ausbauen und festigen, wenn mit dem Schauprozess gegen Assange eine politische und rechtliche Situation geschaffen wird, die Angst und Unsicherheit unter Journalist:innen schürt? An die Notwendigkeit, diese Fragestellungen auf die Agenda zu setzen und sich gesellschaftlich weiter mit den Inhalten der Leaks zu befassen, erinnert NoisyLeaks sehr zurecht.

Den formal und inhaltlich überzeugendsten Beitrag der Ausstellung liefert jedoch Hito Steyerl mit der Dokumentation ihres Vortrags „Duty Free Art“ von 2015. Unter Zuhilfenahme von 150 Kilogramm Sand, die ihr dabei gleichermaßen als Modell einer wüsten Landschaft und Austragungsort militärischer Gefechte wie als eine von drei Projektionsflächen für ihre Bilder und Erläuterungen dienen, erweitert sie die Fragestellungen der Ausstellung weit ins Grundsätzliche. Wie können wir in einer Zeit, in der Ungleichheit wächst, digitale Technologien die Zugänge zu immer mehr gesellschaftlichen Bereichen verengen und die Rede vom planetaren Bürgerkrieg nicht mehr nur ein Menetekel ist, überhaupt noch Kunst schätzen und machen? Anhand der „Syria-Files“ von WikiLeaks beschreibt Steyerl, wie sehr europäische Kunstinstitutionen und Stararchitekten noch mit dem Assad Regime zusammenarbeiteten und um die Gunst des Herrschers buhlten, als der bereits öffentlich als Schlächter seines Volkes gebrandmarkt wurde. Wie haben sich diese Institutionen und die Kunst angesichts des Verschwimmens von Informationen, Fake News und digitalem Rauschen verändert? Was haben Museen, die von Waffenherstellern finanziert werden, mit den Transformationen politischer Ökonomien und des Kunstmarktes zu tun? Kann Kunst, die in Freihandelszonen und Freeport-Kunstlager auswandert, noch wünschenswert sein? Und vor allem: Wie geht es angesichts all dieser Entwicklungen weiter? Ist vielleicht eine Duty Free Art möglich, eine Kunst, die frei ist von jeder Pflicht zu lehren, zu performen oder einen Wert zu verkörpern?

Auch diese Fragen werden sicher länger nachhallen als nur für die Dauer von NoisyLeaks.

Holger Heiland und Martina Kolanoski