„Trenque Lauquen“ vom argentinischen Filmkollektiv El Pampero Cine ist der Film der Stunde. Zwischen Naturalismus und Fantasy, Thriller und Naturbeobachtung erzählt er von einem Rätsel, das er nicht enträtseln will. Dabei erfindet er Elemente einer zeitgemäßen Filmsprache und verknüpft sich so mit aktuellen interessanten Ansätzen in dieser Richtung, wie man sie zuletzt aus Japan, Spanien und auch Deutschland gesehen hat.

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Die Verschwundene Laura. Bild: Grandfilm

Verschwinden in der Provinz

In der argentinischen Kleinstadt Trenque Lauquen verschwindet eine Frau, die angehende Biologin Laura (Laura Paredes). Zwei Männer, ihr aus Buenos Aires angereister Lebensgefährte Rafael (Rafael Spregelburd) und ihr Kollege vor Ort Ezequiel (Ezequiel Pierri), machen sich auf die Suche. Doch bald schon geht es dem Film weniger darum, Lauras Verschwinden aufzuklären oder die Suche nach ihr den Konventionen des Kinos gemäß in Richtung eines Höhepunkts zu treiben, der etwa darin liegen könnte, sie wiederzufinden. Auch eine Annäherung der beiden so verschiedenartigen suchenden Männer aneinander, durch die sich eine Art Buddy-Movie etablieren könnte, wird nach anfänglichen Hinweisen nicht weiterverfolgt. Stattdessen inszeniert Regisseurin Laura Citarella ihren dritten Spielfilm eher als Vervielfachung des Ausgangsrätsels denn als seine Lösung.

Damit führt sie eine Tradition früherer Werke des argentinischen Filmemacher-Kollektivs El Pampero Cine fort, dem sie angehört. Doch während der von ihr als ausführende Produzentin betreute Vorgänger „La Flor“ (2019) noch eine Lauflänge von mehr als 13 Stunden beanspruchte und sich unter anderem an Genrespielen aus der Literatur von Jorge Luis Borges oder Roberto Bolaño orientierte, wirkt „Trenque Lauquen“ nun geradezu auf den Punkt erzählt. In zwei Teilen weist er aber immer noch eine Gesamtlaufzeit von etwas über vier Stunden auf.

Genremix wagen

Schon durch die Benennung nach einem Unort in der Provinz verweist er nicht von ungefähr auf die zu ihrer Entstehungszeit wegweisende Serie „Twin Peaks“ (1990/91 und 2017). Mit ihr schuf David Lynch eine vorher nicht gesehene Art von Genremix, in dem er Motive aus Kriminalfilm, Fantasy, Horror und Seifenoper miteinander verband. Vom Publikum forderte er durch die daraus entstehende Ungewissheit, welche Erwartungen an das Format zu stellen waren, Aufmerksamkeit und Interesse, die über das fernsehübliche Maß hinausgingen. Das war aus Produzentensicht durchaus ein Wagnis.

Auch der Fall der verschwundenen Biologin Laura enthält Anklänge an beziehungsweise Anleihen aus ganz unterschiedlichen Themenwelten. Beginnt „Trenque Lauquen“ als naturalistisch erzählter Thriller, wandelt er sich bald in eine auf zwei Zeitebenen spielende Investigation nach einer verbotenen Liebe. Denn bevor Laura verschwunden ist, hat sie in Büchern, die sie in der örtlichen Bibliothek ausgeliehen hat, einen versteckten erotischen bis pornografischen Briefwechsel gefunden. Zusammen mit Ezequiel, der sie bis dahin als eine Art städtischer Chauffeur an ihre Arbeitsorte gefahren hat, begibt sie sich auf die Suche nach den Beteiligten. Und schnell nimmt ihr Unternehmen nicht nur obsessive Züge an, sondern Ezequiel steckt sich sozusagen an der gemeinsam beobachteten Liebe an und überträgt sie auf Laura.

Unterteilungen und Perspektiven

Jedes der 12 Kapitel, in die der Film unterteilt ist, wird ganz aus der Sicht seiner jeweiligen, immer wieder wechselnden Hauptfigur erzählt. So ergibt sich ein vielstimmiger Reigen atmosphärisch dichter Perspektiven auf das Leben in der rustikal-vorstädtischen argentinischen Provinz. Je nachdem, wessen Geschichte man gerade folgt, variiert die Stimmung der Erzählung. Mal ist sie eher distanziert-ironisch, dann wieder sehnsuchtsvoll, mysteriös, bedrohlich oder spannungsgeladen. Dabei verliert der Film insgesamt aber nie an Plausibilität oder Drive, wie es bei „La Flor“ noch bemängelt wurde. Und das, obwohl im zweiten Teil, als man sich schon nah an der Auflösung des bisher gesehenen wähnt, noch einmal neue Figuren, Liebesverhältnisse und fantastische Geheimnisse eingeführt werden.

Dass das Konzept, von einer Perspektive und Storyline in die nächste zu gelangen, ohne das Publikum dabei ratlos zurückzulassen, so wirkungsvoll aufgeht, verdankt sich vor allem der filmischen Raffinesse des Projekts und der Liebe der Filmemacher zum Fabulieren. Sehr geschickt nutzen sie hierfür im ersten Teil die gefundenen Briefe zur Strukturierung der angehäuften Inhalte. Im zweiten Teil ist es Lauras Stimme aus dem Off, die für einen Radiosender Erklärungen zu ihrem Verschwinden aufgenommen hat, die die verschiedenen Themen zusammenhält – und weitere hinzufügt.

Ein Rätsel, in dem man sich gern verliert

Auch die wirkungsvoll eingesetzte Filmmusik, die kurze, prägnante Themen immer wieder anders arrangiert und in neuen Variationen aufgreift, unterstützt geschickt die Sichtbarmachung von Ähnlichkeiten in den einzelnen Sequenzen. Denn während sich mit jedem Kapitel neue Motivationen der handelnden Charaktere entfalten, die sie mit geradezu entropischer Kraft weiter voneinander zu entfernen scheinen, kreisen ihre Wünsche und Sehnsüchte doch um ganz ähnliche, sozusagen allzu menschliche Grundbedürfnisse: Nähe, Erkenntnis, Kontrolle, das Gefühl anzukommen.

So entfaltet sich das Rätsel des in die Welt geworfen seins in „Trenque Lauquen“ nicht in Richtung einer wohl kaum vorstellbaren Lösung, sondern bildet beständig neue Verästelungen aus. Ohne Gefahr zu laufen, ins Rührselige oder Nostalgische abzugleiten, beobachtet der Film so aus nächster Nähe und häufig in notwendiger Echtzeit, wie eine Handvoll von Personen wenig Antworten findet, sich aber –auf die eine oder andere Art – voller Genuss Geschichten über das Suchen erzählt. Daraus entsteht ein Sog, in dem man sich selbst nur zu gern verliert.

Trenquen Lauquen, Regie: Laura Citarella (Teil 1: 128 min, Teil 2: 132 min) mit Laura Paredes, Ezequiel Pierri, Rafael Spregelburd u. a.