Die Filme von Angela Schanelec gelten als äußerst anstrengend und als Gift an der Kinokasse. Erstaunlicher ist aber, wie viele Menschen, die sich professionell mit Film und Filmkritik beschäftigen, sagen: Das schau ich mir gar nicht erst an. (Und sowas – fügen sie dann meist hinzu – kassiert dann die schöne Staatsknete der Filmförderung.) Dabei ist Angela Schanelecs Art, Geschichten zu erzählen, einer der wenigen innovativen Ansätze eines Filmemachens in Deutschland, das sich den Anforderungen des Mainstreams entzieht. Hier hat sich eine tatsächlich eigene Stimme etabliert – und folgerichtig rückt die Stimme in „Music“, ihrem neuen Werk, auch immer weiter in den Mittelpunkt.

Jon hat seine Stimme gefunden. „Music“ ©2022 Grandfilm

Landschaft und Tragödie

Über ein karges, hügeliges Tal am Mittelmeer zieht Hochnebel auf. Wirbel formen sich in der Luft, und ein ferner Wind kommt immer näher, bis es schließlich zu donnern beginnt. Es folgt eine Nachtszene, in der, wie mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen ist, ein Mann den bewegungslosen Körper einer Frau, die verzweifelt weint, zwischen Kisten an einem Hang ablegt. Nach einem Schnitt ist derselbe Hang aus derselben Perspektive bei Tageslicht zu sehen. Die Frau ist verschwunden, aber nach kurzer Zeit kommt der Mann ins Bild gestrauchelt, das er unter Schwierigkeiten durchquert und über einen steilen Bergpfad wieder verlässt. Wie auch in der Folge hält die Kamera das Geschehen oder vielleicht eher doch die Orte, an denen etwas statt- oder eben nicht stattfindet, in meist unbewegten Einstellungen fest, als interessiere sie sich mehr für die Umgebung, die Arrangements von Steinen, Macchia, Wegen und den Himmel als für die menschlichen Angelegenheiten, die sich darin ereignen. Dennoch ergibt sich mit der Zeit eine Erzählung in »Music«, dem neuen Film von Angela Schanelec, in der die zufällig anmutenden Bewegungen, Unternehmungen und Wege der (mehr oder weniger) Handelnden sich zu einer archaisch anmutenden griechischen Tragödie ausweiten. Sie beginnen, einander zu bedingen und werden zur Ursachen für neue Richtungen, die andere Figuren einschlagen.

Nicht von ungefähr gelten Schanelecs Filme als sperrig und schwer verständlich, als Kassengift oder ihre Drehbücher als »kryptisch«, die »beflissene Bildungsbürger:innen« ansprechen, wie es im Frühjahr im Dschungel hieß. Schanelec arbeitet in ihren Drehbüchern oft mit Auslassungen – um psychologisch motivierte Figuren oder Erzählungen geht es ihr dabei weniger. Vielmehr montiert sie starke, distanziert-beobachtende Bilder mit fast schon mythischer Qualität zu rätselhaften Tableaus, die Zuschauer:innen sich weitgehend selbst erschließen müssen. Dieses verfahren erinnert zumeist doch eher an die Bildende Kunst und nicht an das Kino mit seiner Stringenz und auf berechenbare emotionale Höhepunkte hingeschriebene Storylines.

Stille und Notwendiges

Man durfte also von der fast überschwänglichen Berichterstattung der nicht unbedingt als ausgewiesenes Fachblatt für Filmästhetik geltenden Berliner Boulevardzeitung BZ zur Premiere von »Music« auf der diesjährigen Berlinale durchaus überrascht sein, deren Wertung folgendermaßen ausfiel: »Auf den minimalistisch rätselhaften Stil Schanelecs muss man sich einlassen wollen. Doch dann wird man meist belohnt. ›Music‹ ist einer ihrer besten Filme.« Noch erstaunlicher war jedoch, dass sie bei der Preisverleihung des Festivals ausgerechnet mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch geehrt wurde – zumal der diesjährige Wettbewerb sich insgesamt nicht gerade der Filmavantgarde verschrieben hatte und stattdessen eher dadurch von sich reden machte, dass gut ein Viertel der konkurrierenden Filme deutsche Produktionen waren.
In der ersten Hälfte von »Music« herrscht, bis auf die für Filme der Berliner Schule typischen Naturgeräusche, Stille. Kaum einmal gibt es mehr als karge Dialoge, die Menschen scheinen nicht gewillt, mehr als die nötigste Nähe zuzulassen oder sich gar über ihre Befindlichkeiten auszutauschen. Selbst in Momenten höchster emotionaler Innigkeit oder des Schmerzes wird nicht oder nur das Notwendigste gesprochen.

Von Ödipus zu Orpheus

Was sich nach und nach erschließt ist, dass Jon (Aliocha Schneider) einst vom Vater in den griechischen Bergen ausgesetzt wurde; später erschlägt er ihn aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen. Er heiratet eine Frau, Iro (Agathe Bonitzer), die er als seine Wärterin im Gefängnis kennenlernte, während er seine Strafe für den von ihm begangenen Totschlag verbüßte. Sie nimmt ihm Arien von Händel, Pergolesi und Purcell auf, die er zu singen lernt, um die Gefängnismauern und seine Sprachlosigkeit zu überwinden. Gemeinsam haben sie irgendwann ein Kind, doch dann schlägt das Unheil erneut zu. Erst mit der Zeit erweist sich Jon bei alldem als der Protagonist einer eher noch umrissenen als klar skizzierten Handlung. Auf seiner Reise durch die Zeit wandelt er sich von Ödipus zu Orpheus, vom Unglücksträger zum Sänger, der Tod und Verlust mit Hilfe seiner Stimme überwindet.

Auch wenn die Charaktere tatsächlich mit der Zeit agiler werden, die Erzählung also an Fahrt aufnimmt, ändert sich die Kamera nicht. Die Einstellungen bleiben selbst angesichts von Totschlag, plötzlicher Erkenntnis von Unglück oder sogar eines Selbstmords so gut wie unbewegt. Und trotz der mythisch aufgeladenen Dramatik der Ereignisse interessiert sich die kunstvoll arrangierte Kamera des Films weiterhin für Wolken, Wasser, Wind und Tiere. Immer wieder wird die Gleichzeitigkeit menschlichen und nicht-menschlichen Lebens festgehalten: Mäuse, Fliegen, Krabben, Hunde, Schwäne, sie alle bewegen sich durch die Bilder.

Heilung durch Kunst

Dass diese auf den ersten Blick spröde scheinende Art des Erzählens in Ellipsen – so die bildungssprachliche Bezeichnung für das Stilmittel der Auslassungen – tatsächlich einen starken Sog für diejenigen entfaltet, die bereit sind, sich auf sie einzulassen, liegt vor allem an zweierlei. Zum einen besteht der Film nicht aus willkürlich gewählter Symbolik, sondern Schanelecs Drehbuch bedient sich sehr geschickt an einzelnen Elementen aus den Mythen von Ödipus und Orpheus. Und das nicht, um einer kleinen Bildungselite einen amüsanten Rätselabend zu bereiten, sondern um deren universelle Wirkmacht, die sie seit Jahrhunderten immer wieder aufs Neue unter Beweis gestellt haben, zu nutzen. So entwickelt sie eine Geschichte, in der Verlust, Unheil, Schuld und Erkenntnis von Schuld, die neues Unheil gebiert, zwangsläufig aufeinander folgen. Geheilt werden kann dieses gesammelte Elend nur im Symbolischen, durch die transzendierende Wirkung der Kunst.

Zum anderen aber lebt der Film von seinen großartigen Hauptdarstellern, ihren sparsamen Gesten und ihren kaum bewegten und doch ganze emotionale Welten transportierenden Gesichtern. Selten hat es im deutschen Film Gestalten gegeben, die so sehr in die Welt geworfen wirkten und dennoch ganz dafür geschaffen scheinen, das Gewicht des als unabänderlich erkannten Schicksals an den von ihnen bewohnten Orten klaglos zu ertragen und zu meistern.

Und dann ist da, vor allem in der zweiten Hälfte, natürlich die dem Werk den Namen gebende Musik. Sie wird immer präsenter, je mehr sich die Welt von Jon  nicht nur durch im zustoßendes Unheil, sondern auch durch seine immer schwächer werdende Sehkraft verfinstert. Die Arien, die er im Gefängnis zuerst hört und schnell selbst singt, hellen seine Züge und die ihn umgebende Atmosphäre auf. Viel später sind es dann die Songs des Kanadiers Doug Tielli, die er adaptiert und auf die er eine Karriere und ein Leben mit Wahlfamilie in Berlin gründet.

Für »Music« braucht man ein gewisses Durchhaltevermögen und den Willen, sich auf den Films einzulassen. Dann jedoch werden Betrachter:innen reich belohnt, und dem Urteil aus der BZ ist eigentlich kaum noch etwas hinzuzufügen.

Music, Regie: Angela Schanelec (108 min) mit Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer u. a. Jetzt im Kino