Im Netz religiös-patriarchalen Wahns. Ali Abbasis neuer Film „Holy Spider“ bemüht Fiktionalisierungen, wo die Realität die stärkeren Geschichten schreibt. Dennoch gelingt dem iranischstämmigen Regisseur ein insgesamt sehenswerter Genrefilm. Mit seiner wuchtigen Anklage einer ganz und gar klerikal-misogynen Gesellschaft schafft er eine „Taxi-Driver“-Adaption für die schlechte Lebensrealität des Iran unter dem Mullah-Regime.

Die fiktive Journalistin Rahimi in Ali Abbasis „Holy Spider“. Bild: Alamode Film

Prekäre Verhältnisse

Vor dem Spiegel versucht Somayeh (Alice Rahimi) ihren von Blessuren gezeichneten Körper für die Nacht in Form zu bringen. Kurz sitzt sie am Bett ihres schlafenden Kindes, verabschiedet sich mit einem Kuss und verschwindet in die Dunkelheit. Sie ist Prostituierte und bedient von ihrem angestammten Platz in den Straßen Mashhads, der zweitgrößten Stadt des Iran, ein breites Spektrum unterschiedlicher Männer. Bei einem gutsituierten Freier, der sie mit zu sich nach Haus nimmt, beruhigt sie im Bad mit der exklusiven Lotion seiner Frau heimlich ihre wunde Haut, während er schon wütend an die Tür klopft. Für einen Blow-Job im SUV, der von der nahenden Scharia-Polizei unterbrochen wird, erhält sie zu ihrer Verzweiflung nur einen Teil des vereinbarten Geldes. Um all das irgendwie bis zum Morgengrauen durchzustehen, helfen nur Drogen.

So ist sie bereits leicht weggetreten, als sie zu Saeed (Mesbah Taleb) aufs Motorrad steigt. Dennoch wittert sie Gefahr, als er sie unter dem Vorwand, die Nachbarn seien allzu neugierig, nötigt, einen Tschador überzuziehen. Sie weigert sich deshalb, ihm in seine Wohnung zu folgen. Aber es ist bereits zu spät: Saeed überwältigt sie noch auf der nackten Betontreppe, erdrosselt sie mit ihrem eigenen Kopftuch und entsorgt ihre Leiche wenig später in einem Feld kurz außerhalb der Stadt. Die junge Frau und Mutter ist das neunte Opfer des Mörders, der sich mit Anrufen an die Polizei wendet, um seine wahnhafte Mission zu erklären, und in den Jahren 2000 und 2001 ungehindert töten kann.

Der Spinnenmörder und die Konventionen

„Holy Spider“, nach „Shelley“ (2016) und „Border“ (2018) der dritte Spielfilm des in Stockholm leben den iranischstämmigen Regisseurs Ali Abbasi, basiert auf dem wahren Kriminalfall von Saeed Hanaei, der zu Beginn der nuller Jahre in Mashhad 16 Sexarbeiterinnen ermordete, wofür er 2002 verurteilt und hingerichtet wurde. Weil er auf seine Opfer gelauert habe wie eine Spinne auf ihre Beute, wurde er als „Spinnenmörder“ tituliert. Der Bauarbeiter und Veteran des IranIrakKriegs erklärte vor Gericht, er habe in göttlichem Auf trag und im Sinne des Islam gehandelt. Sein Ziel sei gewesen, die als heilige Stätte des schiitischen Islam geltende Stadt von Sünde und Dekadenz zu reinigen. Hanaei erhielt dafür den Beifall und die Unterstützung zahlreicher religiöser Hardliner. Durch einen Spiel- und einen Dokumentarfilm sowie eine Graphik Novel ist Hanaie bereits vor Abbasis Auseinandersetzung mit dem Fall in die Popkultur eingegangen.

Nachdem Abbasi bei „Border“ noch ganz unterschiedliche Genre-Versatzstücke von Liebesfilm, Sozialrealismus und fantastischem Horror zu einem komplexen Ganzen kompiliert hatte, folgt seine Inszenierung in „Holy Spider“ weitgehend den Konventionen des Serienkillerfilms. Das dient einerseits dem Anliegen, die iranische Gesellschaft eindringlich als durch und durch patriarchal-frauenfeindlich und damit als Nährboden für Erniedrigung und Mord zu zeigen. Andererseits lässt es aber mit der immer stärkeren Konzentration auf die psychische Verfasstheit des Mörders nach und nach die eigentlich interessanteren Aspekte der Schilderung in den Hintergrund treten.

Realismus, Rollenbilder, Metropolen

Denn vor allem im ersten Akt gewährt „Holy Spider“ – wenn auch genretypisch zugespitzt – Einblick in die Härten des Lebens und Überlebens als Frau in prekären Verhältnissen der Islamischen Republik. Wenn etwa Somayeh, das erste Opfer der Filmerzählung, sich in einem heruntergekommenen öffentlichen Waschraum das Rot auf ihren rissigen Lippen nachzieht, schmerzt der Abstand zwischen ihrer Realität und den Rollenvorbildern, denen sie selbst für den erniedrigenden Verkauf ihres Körpers an ganz und gar unempathische Freier genügen muss, beim Betrachten durchaus. Auch wie sie nach dem Wechsel auf hohe Absätze ihre Alltagsschuhe in einer Plastiktüte verstaut und für die Rückkehr in die Tagwelt in einem Versteck deponiert, hat etwas Rührendes. In solchen Momenten kommt Abbasi seinen Figuren tatsächlich nah.

Ebenso zeigt der Film die städtische Mischung aus sich in alle Richtungen erstreckenden favelaartigen Strukturen, Betonwüsten und hell beleuchteten und herausgeputzten religiösen Prachtbauten in grandiosem Realismus. In einem Interview mit dem Hollywood Reporter hat Abbasi darauf hingewiesen, dass es ihm besonders wichtig war, ein authentisches Gefühl für das Leben in einer zeitgenössischen Metropole der Region zu schildern. Da er allerdings weder im Iran noch in der Türkei drehen durfte, stammen die Mashhad repräsentierenden Filmbilder aus der jordanischen Hauptstadt Amman, das größeren iranischen Städten nach Aussage des Regisseurs strukturell stark ähnelt.

Genre und Veränderung

Etwas schade ist dann jedoch, dass „Holy Spider“ nicht nur in der psychologischen Ausgestaltung der von Mehdi Bajestani grandios verkörperten Rolle des Serienmörders allzu deutliche Anleihen bei der sattsam bekannten Traditionslinie der Beschreibung toxischer Männlichkeit im Anschluss an „Taxi Driver“ nimmt. Hinzu kommt, dass auch der zweite Handlungsstrang um die Journalistin Rahimi, die den Fall schließlich im Alleingang und in weiten Teilen gegen die bis zur Apathie untätige Polizei aufklärt, ganz ungebrochen Genreregeln gehorcht, ohne wirklich plausibel zu machen, wofür diese Fiktionalisierung nötig ist. In der Realität des Jahres 2001 wurde Hanaei nämlich durch ein von ihm gewähltes Opfer, das ihm entkam und anzeigte, überführt. Vielleicht hätte hierein der Kern für eine Geschichte gesteckt, die mehr über weibliche Selbstermächtigung angesichts staatlich überformter männlicher Gewalt hätte erzählen können.

Dennoch gelingt es Abbasi mit seiner Hauptdarstellerin Sahra Amir Ebrahimi, eine Reihe von Situationen zu kreieren, an denen sich exemplarisch zeigt, was es bedeutet, in einer allein auf patriarchale Macht zugeschnittenen Gesellschaft zu leben. Ebrahimi selbst ist 2008 nach einem medial aufgeputschten Skandal um ihr Privatleben aus dem Iran nach Frankreich geflohen. Für „Holy Spider“ war sie zunächst Casting-Direktorin. Erst, als eine zuvor für die Rolle der Reporterin vorgesehene Schauspielerin absprang, hat sie diese selbst übernommen – und so überzeugend ausgefüllt, dass sie dafür in diesem Jahr den Preis für die beste Hauptrolle bei den Filmfestspielen in Cannes gewonnen hat. Geholfen hat ihr dabei, wie sie sagt, ihre eigene Wut auf das Regime.

Als überzeugend umgesetzter Genrefilm auf der Höhe der Zeit und Anklage der religiösen Obrigkeit und ihrer in alle Gesellschaftsschichten hineinreichenden Misogynie funktioniert „Holy Spider“ in jedem Fall. In seiner hermetischen Gesellschaftsbetrachtung scheint er durch die Ereignisse der letzten Monate allerdings vom deutlichen Veränderungswillen eben dieser Gesellschaft überholt worden zu sein. Denn woher nun die Kraft für ein Aufbegehren gegen die schlechten Verhältnisse und die Stärke einer einenden Parole wie „Frau. Leben. Freiheit“ kommen kann, deutet er, wenn überhaupt, nur in ganz wenigen Szene sehr vorsichtig an. Etwa als Rahimi den Vater eines der Mordopfer befragt. Während hier die Mutter im Hintergrund ganz im Sinne der herrschenden religiösen Sitten immer wieder auf die verkommene Tochter schimpft, bricht ihr Mann schließlich doch in Tränen aus. Die Liebe zum Kind ist zuletzt stärker als die Wucht der religiösen Verdammung durch die hegemoniale Meinung – und lässt sich auf die Dauer nicht unterdrücken.

Holy Spider, Regie: Ali Abbasi (119 min) mit Sahra Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Mesbah Taleb u. a. Kinostart: 12.1.23