Gegen Ende von Alejandro Iñárritus‘ „Bardo – Die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ gibt es eine Szene, in der eine Gruppe zuvor in die USA Geflüchteter gegen den Strom der amerikanischen Wanderbewegungen zurück nach Mexiko remigriert. Ihre Begründung: Ein Leben in der kaugummiartigen Oberflächlichkeit des sich als Zentrum der Welt gerierenden Nachbarlandes sei auf die Dauer nicht zu ertragen.

Hieran schließt Noah Baumbachs Don DeLillo-Adaption „Weißes Rauschen“, die wie „Bardo“ von Netflix produziert wurde, aufs Schönste an. Fast wirkt es, als wolle der Streamingdienst mit seinen diesjährigen Festivalbeiträgen – „Bardo“ lief in Cannes und „Weißes Rauschen“ eröffnete den Wettbewerb in Venedig – nicht nur im Doppelpack zeigen, wozu seine Budgets bei der Inszenierung von Massenszenen und Ausstattung in der Lage sind. Vielmehr ergänzen sich die Entwürfe zu einem großen All-American-Picture, das obsessiv das Menschheitsthema der Angst vor dem Tod sowie allerlei kollektive wie individuelle Reaktionen darauf umkreist.

Überbordende Ästhetik des Unglücks

Wie Iñárritu schöpft auch Baumbach aus dem Vollen, was den Einsatz filmischer Möglichkeiten angeht. Dabei bleibt er mit ständig kreisender Kamera seiner Vorlage im Großen und Ganzen treu, baut aber den mittleren ihrer drei Teile deutlich aus und fügt am Anfang eine Sequenz hinzu: Als Opener zeigt er eine Aneinanderreihung der eindrucksvollsten Unfallszenen der neueren Filmgeschichte, die während einer Vorlesung vor Studierenden erläutert werden. Auf ihre hier gefeierte Ästhetik baut wenig später Baumbachs eigene Katastrophenfilmvariante auf, die an Gewaltigkeit alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen will. Aus dem minutenlang zelebrierten Zusammenstoß eines mit Explosivstoff beladenen Lasters mit einem nicht endenden Güterzug voller giftiger Chemikalien entsteht nach der Detonation in einer Feuersbrunst die riesige schwarze Wolke, die von den Medien bald zum „luftübertragenen toxischen Vorfall“ stilisiert wird.

Die Familie Gladney im Supermarkt. Weisses Rauschen. Foto: Cr. Wilson Webb (c) Netflix 2022

Hitlerforschung als Todeskult oder: der Supermarkt als Bollwerk gegen die Angst

Aber der Reihe nach. Protagonist der Erzählung ist Jack Gladney, Professor am provinziellen „College on the Hill“, der sich als Begründer der Hitler-Forschung einen Namen gemacht hat. Durch die geschmacklose Abseitigkeit seines Forschungsgegenstands ist er im Kollegium und bei seinen Studierenden zum Star avanciert. Mit Adam Driver hat Baumbach für den vierfachen Patchwork-Familienvater vielleicht einen etwas jungen Hauptdarsteller besetzt. Dafür ist dessen unnachahmliches Minenspiel, das zwischen völliger Verpeiltheit und genialischer Suggestionskraft innerhalb von Sekundenbruchteilen umzuschalten vermag, genauso beeindruckend wie sein für die Rolle angefutterter Bauch.

Gemeinsam mit seinem Freund Professor Murray Siskind (großartig: Don Cheadle), einem Popkultur- und Elvis-Forscher, philosophiert er ausgiebig über Verdrängung und Tod, oder sie schieben gemeinsam ihre Einkaufswagen durch den riesigen Supermarkt des Ortes. Hier fühlen sie sich nicht nur inmitten der gigantischen Warenansammlung vor den Unwägbarkeiten der kreatürlichen Existenz geschützt, sondern treffen auch auf Jacks Kinder und seine Frau Babette (Greta Gerwig), so dass der Konsum den Übergang vom Öffentlichen ins Private markiert.

Zu Hause weicht die Ehrerbietung, die Jack am College entgegengebracht wird, den Herausforderungen von Be- und Erziehungsarbeit. Tochter Debbie (Raffey Cassidy) spioniert der Mutter hinterher und versucht Jack zu überzeugen, dass Babette auf dem Weg in die Drogensucht ist. Immer wieder nimmt sie ein geheimnisvolles Medikament ein, streitet das aber ab, wenn Jack sie danach fragt. Wie im College grundiert auch im geräumigen Haus der Familie ein Teppich aus unaufhörlichem Gerede die Tage, die alles in allem angenehm bürgerlich sorgenfrei verlaufen, wäre da nicht die Paranoia angesichts des Wissens um die Unausweichlichkeit des Todes. Über sie hilft Jack und Babette nicht einmal ihre übergroße und mit jeder Äußerung unter Beweis gestellte Liebe hinweg.

Der Eintritt der Katastrophe oder: in der Welt der Simpsons

Durch den Chemieunfall in der Nähe ihrer Kleinstadt bricht diese sonst unterschwellige Angst mit voller Wucht in den Alltag der Familie ein. Jacks anfängliches Leugnen der Gefahr gegenüber den Kindern hilft schnell nicht mehr: Wie ihre Nachbarn fliehen auch die Gladneys in wilder Panik. Wichtig scheint dabei, beim hektischen Zurücksetzen im Kombi aus der Einfahrt die Mülltonne umzufahren, damit die gesamte Straße zuletzt mit umgestürzten Blechtonnen gespickt im Dämmerlicht liegen kann. Im Auto geht das allgegenwärtige Geplapper vor der Kulisse apokalyptischer Wolken- und Wetterbilder auf bis zum Horizont zugestauten Straßen weiter. Durchs Aussprechen von Vermutungen sollen diese zu schutzbietenden Wahrheiten werden. Allerdings übertreibt es Baumbach bei der ihm zur Odyssee geratenden Flucht vor der unsichtbaren Gefahr einige Male mit als witzig gedachten Übertreibungen.

Bei den Simpsons würde das Meiste davon wahrscheinlich gut funktionieren, hier aber ruft es vor allem den Eindruck hervor, dass der Film gerade die existenzielleren Implikationen seines Themas kaum ernst nimmt. Auf die Dauer erreichen die wiederholten hektischen Aufbrüche, bei denen, wer nicht schnell genug in die richtige Richtung rennt, unversehens halbnackt in der Landschaft steht, überfahren oder niedergetrampelt wird, vor allem eins: sie nerven.

Medienkritik und das Unzeitgemäße der Postmoderne

Auch das abschließende dritte Kapitel kann insgesamt nicht an den so betörend vom einlullenden amerikanischen Kleinstadtleben erzählenden ersten Teil anknüpfen. Was hier jedoch kaum an Baumbachs wenigen Ergänzungen gegenüber dem Buch liegt, sondern eher daran, dass DeLillos Roman, der vor 37 Jahren erschienen ist, an vielen Stellen doch etwas aus der Zeit gefallen wirkt. Dabei findet sich stellenweise hellsichtige Medienkritik, die angesichts von Fake News und Social Media-Schlachten heute aktueller wirkt als je zuvor. Auch die Beschreibungen hilflos überstürzten Regierungshandelns gegenüber einer unsichtbaren Gefahr wie dem luftübertragenen toxischen Vorfall rufen sehr gegenwärtig die Pandemieerfahrungen der letzten Jahre auf.

Weniger gut gealtert ist aber die Art, in der das Hauptthema von der Todesangst als Urgrund aller Kultur verhandelt wird. Denn kaum ist nach der großen Evakuierung wieder Ruhe eingekehrt, beginnen Jack und Babette darum zu wetteifern, wer von ihnen mehr Angst vor dem Sterben hat. Jack geht aufgrund der Diagnose durch ein Computerprogramm davon aus, der Tod habe seine Arbeit bei ihm bereits aufgenommen, nachdem er sich beim Tanken auf der Flucht zu lang dem toxischen Regen ausgesetzt hat.

In Bezug auf Babette ergeben die gemeinsamen Ermittlungen mit Debbie, dass sie als Probandin an einer geheimen Medikamentenentwicklung teilgenommen hat. Um an Dylar, das Mittel, das Todesangst betäuben soll und heftige Nebenwirkungen hat, heranzukommen, ist sie sogar bereit gewesen, sich über Monate hinweg zu prostituieren. Das wiederum setzt Jack unter Zugzwang: Die – selbstverständlich nur theoretische – Ermutigung seines Kollegen Murray weckt in ihm das Verlangen, vom „Sterber“ zum „Töter“ zu werden. So, beteuert Murray, erhalte er Lebensenergie zurück.

Noch kruder wird es, als zum Finale hin unter Nutzung postmoderner Sprachspielklischees schnell noch ein ans Cronenbergsche Oeuvre erinnerndes Thriller-Pastiche gebastelt wird, in dem zu allem Überfluss Lars Eidinger als diabolisch verkommener Ex-Wissenschaftler und Barbara Sukowa als atheistische deutschstämmige Nonne herhalten müssen.

Totaler Sieg der Form über den Inhalt

Aber gerade, als man den Film schon als zuletzt doch verkorkst abschreiben will, gibt es einen letzten Ausflug der Beteiligten in den nun noch schöneren Supermarkt, der fast für die vorherigen Entgleisungen entschädigt und in eine der tollsten Abspannsequenzen der Filmgeschichte übergeht. Zum Stück „New Body Rhumba“ des LCD Soundsystem Frontmanns James Murphy entsteht aus der gespenstischen Banalität der bunten Warenwelt eine Musikvideo-Choreographie, die bis zur letzten Sekunde bezaubert: ein Sieg der Ästhetik über den Inhalt, der DeLillos wahrscheinlich wirkmächtigstem Buch durchaus angemessen scheint.

Weißes Rauschen, Regie: Noah Baumbach (136 min) mit Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle u. a. Kinostart: 8.12., ab 30.12. auf Netflix