Johann (Claude Heinrich) sucht Ruhe an der Elbe. (c) Pandora Film, 23/5

„Wir müssen jetzt ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden.“ Mit diesen Worten weckt Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) eines Morgens ihren 13-jährigen Sohn Johann (Claude Heinrich), der an diesem Tag eigentlich eine Lateinarbeit schreiben soll. Doch auch abgesehen davon, dass er nicht in die Schule gehen wird, bleibt in ihrer beider Leben für lange Zeit kaum etwas wie es gewesen ist. Zum einen erhält mit dem Empfinden schierer Angst ein Gefühl Einzug in Johanns Welt, das er bisher nicht kannte; zum anderen stehen am Vormittag mit den „Angehörigenbetreuern“ Vera (Yorck Dippe) und Nickel (Enno Trebs) zwei Polizisten in Zivil vor der Tür, die ihnen als neue Mitbewohner nicht mehr von der Seite weichen werden.

Die Entführung Jan Philipp Reemtsmas im Jahr 1996 ist einer der spektakulären Kriminalfälle in der Geschichte der Bundesrepublik. 33 Tage lang wurde der Tabakerbe, Mäzen, Literatur- und Sozialwissenschaftler von vier Entführern festgehalten und schließlich erst nach mehreren gescheiterten Übergabeversuchen gegen Zahlung eines hohen Lösegelds freigelassen. Nachdem die Medien die Nachrichtensperre zum Fall während der Dauer der Entführung respektiert hatten, um die Geisel nicht zu gefährden, beherrschte das Thema im Anschluss die Schlagzeilen und kehrte – unter anderem, weil über den Verbleib von großen Teilen der Beute bis heute spekuliert wird – über zwanzig Jahre regelmäßig in den Fokus der Berichterstattung zurück. Das Entführungsopfer selbst hat seine Erinnerungen an die Zeit der Gefangenschaft in seinem Buch „Im Keller“ geschildert. 2018 machte sein Sohn Johann Scheerer sein damaliges Erleben unter dem Titel „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ öffentlich. Diesen Blick durch die Augen eines Heranwachsenden aufs Geschehen hat nun Hans-Christian Schmid verfilmt.

Die Familie im Fokus

In den Mittelpunkt der Filmerzählung stellt er folgerichtig weder die Schilderung des Verbrechens mit actionreicher Entführungsszene noch die Routinen der Polizeiarbeit. Beides wären Herangehensweisen gewesen, die den Konventionen des True-Crime-Genres entsprochen hätten. Schmid jedoch geht es weniger um das spektakulär Außergewöhnliche der Lage; vielmehr sucht er nach den Anknüpfungspunkten, die es ihm erlauben, den Stoff überzeugend zu seinem Film zu machen. Wie auch in anderen seiner Werke findet er sie in den Beziehungskonstellationen innerhalb der Familie und den Fragen, die sich an sie knüpfen. Durch den immensen Druck, den das Verbrechen auf die sowieso von existenziellen Fragen geprägte Zeit des Heranwachsens bedeutet, erfährt Johanns coming-of-age-Geschichte eine besondere Aufladung, die der Film akribisch auslotet und für die er exemplarische, hochverdichtete Szenen findet.

Dass pubertierende Jugendliche und ihre Eltern bisweilen auf verschiedenen Planeten leben, ist eine Binsenweisheit. Schmids streng chronologisch erzähltem Film gelingt es, sie in zwei Situationen einzufangen, ohne dabei seinen beobachtenden Realismus didaktisch überzustrapazieren. Am Tag vor der Entführung probt Johann mit seiner Schülerband. Das ist seine Welt, hier haben er und seine Freunde große Pläne. Dann kommt er nach Hause und muss mit dem Vater Latein lernen. Der ist als Büchermensch und Humanist erschüttert vom Unverständnis des Sohnes und vor allem von dessen Desinteresse am Inhalt des Textes, den er übersetzen muss. Um ihn für das Fach zu begeistern, schwärmt er ihm vor, wieviel Leben und menschlich aufrührerischen Eigensinn der Autor Vergil in seinen Dichtungen eingefangen und gespeichert habe – und empfiehlt die Lektüre der „Aeneis“ als lebensbereicherndes Erlebnis über Ostern. Dazu kann Johann nur ungläubig den Kopf schütteln. Wenig später wirft er das ihm vom Philanthropenvater überreichte Buch in den Müll – allerdings nur, um es, als dessen Gefangenschaft und Abwesenheit andauern, genau dort vergebens wieder zu suchen. Ein mögliches Band, das sie hätte verbinden können, scheint so in Uneinigkeit zerrissen, was dem Jungen im Nachhinein schlaflose Nächte bereitet. Es führt ihn auch zur Frage, ob er in einer von seinem Vater und dessen Ansprüchen geprägten Welt überhaupt je die Möglichkeit haben kann, selbst als Person spannend genug zu erscheinen, um Anerkennung zu finden.

Perspektiven

Selbstverständlich beschränkt sich die Perspektive von „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ nicht ausschließlich auf Johann, sondern weitet sie auch auf die nächsten Bezugspersonen, vor allem die Mutter, aus. Durch ihre Augen kann sich der Film auch der Arbeit der etwa zweihundert Polizisten widmen, die zur Befreiung Reemtsmas und vor allem zur anschließenden Verfolgung der Täter Tag und Nacht im Einsatz sein sollen. Das zu erklären wird zumindest der mit dem spröden Fabian Hinrichs perfekt besetzte Einsatzleiter Rainer Osthoff nicht müde. Dennoch häufen sich mit der Zeit vor allem die Fehler, und bald schon sieht es aus, als würde der Staatsapparat, der so selbstverständlich wie dominant in Haus und Leben von Johann und seiner Mutter eingedrungen ist, die Lösegeldübergabe und damit die Freilassung des Vaters eher behindern als erleichtern. Als Gegengewicht zu seinen Maßnahmen hat Ann Kathrin bereits früh weitere Verstärkung ins Haus geholt: Johann Schwenn (Justus von Dohnányi), den Rechtsanwalt der Familie, und den engen Freund Christian Schneider (Hans Löw). Während die Angehörigenbetreuer von einer Panne zur nächsten navigieren und auch Schwenn mit bisweilen enervierendem Narzissmus nicht durchgängig gute Figur macht, versuchen Christian und Ann Kathrin für Johann einen Rest an Normalität aufrecht zu erhalten. Ein Unterfangen, das auf die Dauer unter den gegebenen Umständen zum Scheitern verurteilt ist.

Viele der geschilderten Beziehungen werden der Belastung, die die Ungewissheit über den Ausgang der Entführung bedeutet, nicht standhalten. Schmids großes Verdienst ist es, für die Anspannungen und emotionalen Subtexte immer wieder unaufdringlich überzeugende Bilder und Szenen zu finden; etwa, wenn Nickel nach seiner Abberufung versucht, sich noch einmal von Johann zu verabschieden, der das aber gar nicht wahrnimmt, weil er auf seinem Gameboy spielt und ganz darein versunken ist. Mit dieser Erzählhaltung schließt er zehn Jahre nach seinem letzten Kinofilm „Was bleibt“ und der im deutschen Fernsehen in ihrer akribischen Milieu-Darstellung einzigartigen Serie „Das Verschwinden“, die von der Suche einer Mutter nach ihrer vermissten Tochter im deutsch-tschechischen Grenzgebiet erzählt, an seine größten Erfolge wie „23“, „Lichter“ oder „Crazy“ an. Dokumentar- und Spielfilmelemente gleichermaßen souverän nutzend zeigt sich, was eben auch das oft der Langweiligkeit geziehene aktuelle deutsche Kino und seine Geschichten sehenswert machen kann: genau beobachten, verdichten, nur das zeigen, was auch zu sehen ist – Realismus statt Spektakel. Und wenn die Anspannung mit den Endtiteln nachlässt, ertönt passend zur verwirrten Stimmung beim Versuch des Zurechtfindens in der Welt der Track „Into Love / Stars“ von The Notwist, der Band, die Hans-Christian Schmids Filme seit „Crazy“ soundmäßig mitgeprägt hat.

Wir sind dann wohl die Angehörigen, Regie: Hans-Christian Schmid (118 min) mit Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw u. a.

Kinostart: 3.11.2022