Vom Verlorensein des Heranwachsens lässt sich auf ganz unterschiedliche Arten erzählen. Luca Guadagnino hat sich vor allem mit „Call me by your Name“ als Meister dieses Fachs erwiesen. Mit seinem Film verhalf er 2017 Hauptdarsteller Timothée Chalamet zum Durchbruch und schuf mit ihm eine Ikone früherotischer Verunsicherung. Auch im aktuellen Wurf „Bones and All“ umkreist er einfühlsam eine aufkeimende Liebe. Diesmal jedoch sind die Protagonisten keine wohlsituierten Akademikersprößlinge, sondern gehören der ländlichen weißen amerikanischen Unterklasse an. Erschwert wird ihr sowieso nicht ganz einfaches white trash-Dasein zusätzlich durch eine weitere Besonderheit: Sie sind „Esser“. Durch den ererbten Hunger nach Menschenfleisch sind sie als schlechthin anders und nicht akzeptabel gebrandmarkt. Ein Alleinstellungsmerkmal mit dem die einen mehr, die anderen weniger hadern.

Lee (Timothée Chalamet) und Maren (großartig und hoffentlich die nächste, der Guadagnino zum internationalen Durchbruch verhelfen wird: Taylor Russell). Foto: Yannis Drakoulidis/Metro Goldwyn Mayer Pictures (c) 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved.

Vampire und Kannibalen – was noch geht und was nicht mehr

Die Verflechtung von Coming-of-Age- und Horror-Motiven ist in Literatur und Kino keineswegs neu. Insbesondere Vampirismus kann seit langem als Bild für das Ausgegrenztheitsgefühl beim Übergang ins Erwachsenenalter gelten, man denke hier nur an einen zeitgenössischen Klassiker wie Tomas Alfredsons „Let the Right One in“. Fast könnte man sagen, der Blutdurst von Vampiren gilt als elegantes und anerkanntes Bild für die Sublimationsleistungen, die ein Leben in sozialen Zusammenhängen eben auch bedeutet.

Schwieriger wird das beim Komplex Kannibalismus. Menschenfresser rühren sehr viel direkter ans Tabu als Blutsauger, weil der Ausschluss ihrer Praxis eine der wesentlichen Grundlage unserer Zivilisation darstellt. Wahrscheinlich ist es aber auch gerade dieser Tatsache geschuldet, dass in erster Linie besonders sensible Künstler:innen wie Claire Denis oder Pier Paolo Pasolini ihn als Metapher bemühen, um ihre Sicht auf den Zustand der Welt darzustellen. Allerdings führte diese Strategie sowohl bei Pasolinis grandiosem „Der Schweinestall“ als auch bei Denis‘ schlafwandlerischem „Trouble Every Day“ zum Quasiausschluss aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Keiner der beiden Filme hatte zu seiner Zeit einen regulären Kinostart in Deutschland.

So verwundert es wenig, wenn auch in Bezug auf „Bones and All“ Kritiken, die vor allem das Aufeinanderprallen von und Changieren zwischen Zärtlichkeit und naturalistisch unangenehmer Gewalt thematisieren, von Redaktionen durchs Weglassen von Halbsätzen und Resümeeargumenten reflexhaft ganz in eine Richtung begradigt werden. Was da gezeigt werde, gehe gar nicht, ist dann das Fazit, das so aber nie intendiert war.

Denn in Wahrheit stellt sich wohl gar nicht so sehr die Frage, warum Guadagnino mit jedem Film mehr ins Genre und Unappetitliche abgleitet. Vielmehr könnte man die Entwicklung seiner Filmographie als konsequentes Abarbeiten an den Gegebenheiten unterschiedlicher Klassenlagen in verschiedenen Zeiten verstehen.

War „Call Me by Your Name“ (2017) ein Film über die im Verborgenen liegenden libidinösen Untiefen bourgeoiser Heranwachsender in einem flirrend italienischen Sommer, zeigte sein (dem Original weit überlegenes und insgesamt unterbewertetes) Argento-Remake „Suspiria“ (2018) seinen Blick auf die in Kälte erstarrten Kulminationspunkte gesellschaftlichen Aufruhrs im Berlin des Deutschen Herbsts. „Bones and All“ wäre dann als Kommentar zum Erwachsenwerden unter Armutsbedingungen in einem immer grundsätzlicher zerfallenden Amerika zu vertehen.

Als solcher mutet er seinen Zuschauern einiges zu, ist aber insgesamt durchaus eindrücklich und stark geraten. Und in der Zeichnung der Beziehung seiner wunderbaren und wunderbar unschuldigen Hauptcharaktere bisweilen fast schmerzhaft schön. Wahrscheinlich ist gerade die ihm angelastete Unentschiedenheit zwischen Genres, Zartheit und Gewalt ein Wesensmerkmal von Guadagninos Realismus. Wie das immer unvermitteltere Aufeinandertreffen größter Widersprüche ein wesentliches Signum unserer Zeit ist.

Spinner und Drogensüchtige in Amerika

In Form eines Märchens hat übrigens Wim Wenders bereits in seinem 2000 auf der Berlinale vorgestellten „The Million Dollar Hotel“ die nächste Nachbarschaft zwischen unvorstellbarem Reichtum und mit Sucht und mentalen Defiziten zusammengedachter äußerster Armut auf seine Weise thematisiert. Ein ungeklärter Todesfall, Verrücktheit, Schmerz, Verrat und Gier treffen hier auf im Geheimen blühende Genialität, das Erwachen der Liebe und die Erinnerung an die nicht auszulöschende Schönheit des Lebens.

Das mag gegen Guadagninos Entwurf heutzutage möglicherweise als allzuschön und belanglos erscheinen, was wiederum damit zu tun haben mag, dass 1999 viele der Schrecken, die unsere Zeit prägen, noch nicht eingetreten waren. Allein aufgrund des grandios feinnervigen Spiels des Ensembles um Jeremy Davies, Milla Jovovich, Jimmy Smits, Peter Stormare, Amanda Plummer und Gloria Stuart sowie ihren Antagonisten Mel Gibson (der nicht nur aus einer anderen Welt zu stammen scheint, sondern tatsächlich stammt) sowie der berückend schönen anamorphen Cinemascope-Bilder ist es aber auch heute in der frisch restaurierten Fassung noch unbedingt sehenswert.