Symptome wie Ursachen des menschlich-planetarischen Elends scheinen hinlänglich bekannt. Angesichts der Verhältnisse machen sich dennoch vor allem Müdigkeit und Abstumpfung breit. Im letzten Editiorial vor der Sommerpause unter dem Titel „Druckabfall“ übt sich an diesem Wochenende auch der Verfassungsblog in Resignation.

„Müde, kurzatmig, chronisch erschöpft, benebelt. Die Symptome von Long COVID sind im Jahr 3 der Pandemie weitläufig bekannt, und eine substanzielle Zahl von Menschen leidet schwer an ihnen, über Wochen, Monate, Jahre. Die allgegenwärtige Erschöpfung scheint mir nicht allein ein klinisches Phänomen zu sein […] Ein eigenartiger Druckabfall ist in diesen frühsommerlichen Wochen zu beobachten. An Dringlichkeit herrscht wahrhaftig kein Mangel: Teuerung, Krieg, Dürre und Pestilenz, ich kann mich in meinem ganzen Erwachsenenleben an keine so zum Zerreißen gespannte Zeit erinnern. Alle Hähne sind aufgedreht, armdick müsste es einem entgegen strömen. Aber nein. Es tröpfelt höchstens. Die sechste Welle kommt? Na, kommt sie eben. Der Kanzler fährt nach Kiew. Dann fährt er wieder heim.“

Dann allerdings sollen die Leser:innen nicht entlassen werden, ohne dass vor dem Urlaub noch zu nötiger Umkehr und überfälligem Erwachen aufgerufen wird: „Also Zeit, die Müdigkeit abzuschütteln, den Rücken zu strecken, den schlaffen Verdruss in heiße Wut zu tauschen, den Scheidungsanwalt einzubestellen und die Pumpmotoren anzuwerfen!“

Onkomoderne

Eine erhellende Bestandsaufnahme der Wucherungen unserer Zeit liefert seit elf Jahren Christina Zück in ihrer Kolumne „Onkomoderne“. Für die Berliner Zeitung „von Hundert“ befasst sie sich so kenntnisreich wie überraschend mit den raumfordernden Geschwüren der Systeme, in denen wir uns eingerichtet haben und die dazu tendieren, uns hinterrücks immer über den Kopf zu wachsen. Deren Spiegelungen geht sie in Theorien, Kunst, Pop und Medizin nach. Frei verknüpfte und einander hervorbringende Beschreibungen befassen sich mit städtischer Bauwut, der Angst vor Pegida und anderen Formen des Populismus, vor allem aber mit den Möglichkeiten künstlerischer Auseinandersetzung mit all diesen Realitätsbruchstücken. Aber auch emanzipative Cyborgdenkmomente fließen neben eigenen Erfahrungen aus dem (Über-)Leben mit Handicaps im Ausstellungsbetrieb und darum herum in die Texte ein.

Schon in den ersten Kolumnentext von 2011/12 las sich das ganz ähnlich wie aktuell bei den verzagenden Verfassungsrechtler:innen:

„A. fühlt sich in letzter Zeit öfters erschöpft. Nein, es ist kein Burnout, eher ein Burndown. Alle Energie zum Investieren hat sich in ihrem Innernen zu einem Strohknäuel verwurstelt, und es tun sich die besagten schwarzen Löcher auf unter gleichzeitiger Dauerbefeuerung von allem – wuchernde Kunst, blinkendes Internet, superinteressante Kontakte – aber wie Ihr bereits wisst: es führt alles zu nichts. Egal, wie sehr man sich bemüht, es gibt nie genug Geld, Essen, Öl, Liebe.“

„Wie sollen die Vorstellungen der Zukunft generiert werden? Es ist so einfach, getaggte Fotos und Stichworte zu googeln, Wikipedia zu konsultieren, Wörter auf dem Bildschirm unscharf anzuschauen, und alles mit allem in Verbindung zu bringen und in mäandernden Assoziationsketten weiterzutreiben. Vorverkaufsverzichtserklärung. Deterritotialisierung. Jede kleine schmutzige Idee wird zu einer großen hässlichen hellblauen Skulptur ausgebaut.“

Gesammelt sind die Kolumnen jetzt als dritte Publikation von Andreas Kochs und Peter Kochs permanentverlag erschienen und können auf der Website bestellt werden. Es lohnt sich.

Christina Zück. Onkomoderne. Kolumnen 2011-2022.