Schock­erfahrung im Kino, schreibt Daniel Moersener in seiner Kritik zu Blutsauger, animiere das Publikum mitnichten zu totalitärer Raserei. Stattdessen zerstreue es affektiv jegliche Disposition in diese Richtung. Glückliches Popkultur-Amerika: „Das zu Ende der Zwanzigerjahre gärende Unbehagen an der Moderne entlud sich in Europa in antisemitischem Wahn, in den USA sublimierte es sich hingegen in die Popularität lustvoller, befreiender Horrorunterhaltung.“

Allein schon deshalb hier die nächste Besprechung eines aktuellen Slashers, der mehr sein will als bloßes Aufguss seiner Vorläufer: Ti Wests „X“.

Mia Goth in Ti Wests „X“ auf dem Titel des Dschungel dieser Woche.

Das wüste Land

Ein Parkplatz vor einem Oben-ohne-Amüsierschuppen inmitten der landschaftlichen Verheerungen der petrochemischen Industrie bei Houston. Man schreibt das Jahr 1979. Eine Gruppe junger Leute mit Kamera und Schminkkoffern besteigt einen Van und macht sich auf den Weg.

In einem heruntergekommenen Tankstellenshop an der staubigen Landstraße deckt sich die Gruppe mit Proviant für die nächsten Tage ein. Im Laden läuft das Bibelfernsehen, der Fernsehprediger prangert die Allgegenwart der Sünde an. Die Tankstellenverkäuferin, offenkundig dem abgehängten Teil des ländlichen Amerika angehörig, hat für die Möchtegern-Stars, die in ihren Laden stürmen, nichts übrig. Die verfolgen ­einen Plan. Abseits der Zivilisation wollen sie den anspruchsvollen Porno »The Farmer’s Daughters« drehen, der in die Geschichte des Sexfilms eingehen soll. So beginnen – mit etwas Glück – Hollywood-Karrieren.

Nicht von ungefähr erinnert das Szenario in Ti Wests Retro-Slasher-Film »X« an klassische Horrorschocker wie Tobe Hoopers »The Texas Chain Saw Massacre« (1974). Doch nicht nur das lässt erahnen, dass das Unternehmen der Nachwuchs-Crew ein böses Ende finden wird; dieses hat bereits die erste Einstellung vorweggenommen. Aus einiger Distanz zeigt sie das Haupthaus des Anwesens mit mehreren Polizeiwagen auf dem Gelände. Der örtliche Sheriff und seine Männer sehen sich mit dem Horror eines »gottverdammt« rätselhaften Blutbads konfrontiert – 24 Stunden nachdem die Gruppe so erwartungsvoll zum Filmdreh aufgebrochen war.

Avantgarde und Familie

Die kleine glückliche Filmfamilie hat sich in der Einöde zusammengefunden. Maxine (Mia Goth) ist der Star des Streifens, an ihrer Seite agiert Bobby-Lynne (Brittany Snow). Beide Frauen sind sich ihrer Wirkung auf Männer sehr bewusst, beide besitzen, wie es heißt, den »X-Faktor«. Vor allem Bobby-Lynne, die auch privat eine Affäre mit dem männlichen Darsteller Jackson Hole (Scott Mescudi) unterhält, und zwar ganz allein zu ihren Bedingungen, stellt ihre Sexpositivität lässig zur Schau. Maxine, die mit dem Produzenten Wayne (Martin Henderson) liiert ist, benötigt immer erst eine ordentliche Nase Koks, um am Set in Fahrt zu kommen.

Regisseur und Kameramann in Personalunion ist der von seinem Talent überzeugte RJ (Owen Campbell). Ständig betont er, dass es sich bei dem gemeinsamen Projekt unbedingt um ein an der französischen Nouvelle Vague geschultes Stück Filmkunst handele. Seine Freundin Lorraine (Jenna Ortega) ist die ­Tonfrau im Team. Mit dem Sexfilm-Genre hat sie ihre Schwierigkeiten, was RJ als Prüderie abtut. Das wiederum mag Lorraine nicht auf sich sitzenlassen. Plötzlich fordert sie selbst eine Rolle im Film, was dann allerdings ihn, nicht sie, aus der Bahn wirft.

Aber RJ ist nicht der Einzige, den die sexuell aufgeladene Stimmung auf dem Gelände überfordert. Da wären auch noch die seltsamen Vermieter, die im Haupthaus der Farm wohnen. Der Weltkriegsveteran Howard (Stephen Ure) und seine gespensterhafte Ehefrau Pearl (Mia Goth) verfolgen das Treiben auf ihrem Grundstück misstrauisch. Kein Wunder – die Crew hat dem Vermieter nicht gesagt, um welche Art von Filmdreh es sich handelt. Doch auch die Alten waren einmal jung. In Mystery-gleichen Szenen spukt eine adoleszente Version der greisen Pearl durch die Nacht. Zum Clash der ­Generationen kommt es, als die nostalgisch sexualisierte Pearl schließlich mitspielen will. Vom Anblick jugendlicher Haut erregt, drängt sie sich Maxine auf, die sie panisch abweist. Pearl sinnt auf Rache.

Motivation und Grauen

Das Böse ist in Ti Wests Horrorfilm nicht der Killer, der aus dem Nichts kommt, sondern eine zerbrechliche Frau, deren Grausamkeit vom Schmerz der Vergänglichkeit und von unterdrücktem Begehren angetrieben wird. Dass Mia Goth sowohl die Rolle des Pornosternchens Maxine als auch die der geisterhaften Pearl spielt, gibt einen Hinweis auf verborgene Zusammenhänge der Handlung, die in einem Prequel mit dem Titel »Pearl« noch weitergesponnen werden sollen.

»X« ist keinesfalls einfach ein weiteres Produkt in den endlosen Reihen blutiger Slasher-Filmchen. Meist funktionieren Modernisierungen des Subgenres so, dass sie schöne Körper als Schauwerte vorführen, um sie anschließend in immer schrilleren Schockmomenten immer blutiger zu zerstückeln. Dabei passen die Filme sich den je aktuellen Sehgewohnheiten des Publikums an, wodurch sie häufig wie slicke Werbeclips für inhaltsleere Gemetzel daherkommen. So tendiert das Schlitzer-Genre dazu, Gewalt eher zu verherrlichen als schmerzhaft spürbar zu machen.

Dagegen adaptiert West vor allem kunstvoll die Siebziger-Jahre-Ästhetik der Originale. Diese bestechen im Gegensatz zu vielen der Nachfolgefilme durch eine häufig nervenzerrüttende Atmosphäre. Das Grauen wird angedeutet, aber nicht ausgemalt. Die Wirkung ist ungleich subtiler. Darüber hinaus verorten sie den Horror häufig einfallsreich in den Antagonismen gesellschaftlicher und psychologischer Grundkonstellationen ihrer Zeit. Die Schrecken, die Figuren wie Norman Bates in »Psycho« (1968) oder Leatherface, der durchgeknallte Metzelmeister des Kettensägenmassakers, verbreiten, beruhen nicht zuletzt auf ihrer je spezifischen Verwurzelung in – mehr oder weniger im Wortsinn – kannibalistischen Familien oder Gemeinschaften.

Erzählen und erzählen über das Erzählen

Äußerst unterhaltsam verbindet West in seinem Film eine Metaerzählung über das Genre mit tatsächlich beständig zunehmender Spannung. Da seine Protagonisten durchaus unterschiedliche Ansichten über Sexualität, Pornographie, Kunst oder Beziehungsmodelle haben und bereit sind, miteinander um sie zu ringen, überzeugen sie weit mehr als die ­bekannten Figuren aus den B-Movies. Eine gleitende Kameraführung mit plötzlichen Zooms und viel Liebe zu hölzernen und rostigen Details sowie leerem Raum unter einem weiten Sommerhimmel und die effektreiche Schnitttechnik tun ein Übriges, um einen stimmigen Gesamteindruck zu erzeugen.

»X« ist ein kleiner, gemeiner Film über eine Zeit, in der Sexfilme in der Populärkultur als Avantgarde ungefähr den Stellenwert beanspruchten, der heutzutage dem Horrorgenre zukommt. West erlaubt sich unzählige Anspielungen an Klassiker des Horrorkinos und zelebriert die immer mal wieder aus den Tiefen des Genres an die Oberfläche steigende Tradition feministisch grundierter Gewaltmotivation, wie es zuletzt etwa Luca Guadagnino 2018 mit seinem Remake des Giallo-Klassikers »Suspiria« oder das schmerzhafte Kino von Regisseurinnen wie Claire Denis oder Julia Ducournau getan haben. Mit seinem Film-im-Film-Filmemacher RJ könnte West allerdings das Schicksal teilen, dass sein Ansatz hartgesottenen Genrefans zu gemächlich, vielen Kunstfilmconnaisseuren aber zu krass erscheint.

X (USA 2022). Buch und Regie: Ti West. Darsteller: Mia Goth, Jenna Ortega, Brittany Snow, Scott Mescudi. Kinostart: 19. Mai