Noch um die Jahrtausendwende war der Kiez zwischen Rosenthaler Platz und Hackeschem Markt eine Gegend, die Schwiegereltern in spe aus der Provinz bei einem Spaziergang das Fürchten lehren konnte. Kaum ein Haus war saniert, alles rottete vor sich hin, wie es das zu DDR-Zeiten und unter dem temporären Schutz ungeklärter Restitutionsansprüche gefühlt immer schon getan hatte. Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit bevölkerten entlang der Oranienburger Straße die Sexarbeiterinnen des Straßenstrichs die Gehwege. Müll lag herum und Hundekot sowieso, die Tram quietschte und gegenüber den Hackeschen Höfen fehlten die Vorderhäuser.

Blick durch die Brunnenstraße zum Rosenthaler Platz; am Tacheles, beides um 1999 (c) H. Heiland

Dafür verbargen sich in den Hinterhöfen und hinter verrammelten Fassaden die Perlen der Berliner Clubkultur. Mit dem besetzten „IM Eimer“ (geschlossen 2001), dem winzigen „Club 4 Chunk“ (mit seinem Lehmboden im Keller unter einer Baracke an der Freifläche Ecke Steinstraßen) und der „Galerie berlintokyo“ wählte die Spex einmal in ihren Jahres-Polls drei Clubs aus der Rosenthaler Straße unter die zehn wichtigsten der Republik (oder der Welt?): selbstverständlich auf die ersten Ränge.

Nachtleben und Erinnerung

Das war wahrscheinlich 1998 oder noch etwas früher, jedenfalls zu einer Zeit, in der das Magazin unter denen, die aufgrund ihrer Deutschsprachigkeit vom international angelsächsischem Diskurs abgekoppelt waren, noch als zentrale Instanz für die meisten Spielarten der Popkultur gelten konnte. Trotzdem erinnerte sich eigentlich niemand, je irgendwelche Redakeure im Gedränge zwischen Hardcore, Discobeats und Drum and Bass gesehen zu haben. Aber Erinnern und Nachtleben schlossen einander sowieso immer schon aus.

Gleich nebenan gab es die „Aktionsgalerie“ mit ihren Kellern, das „Suicide“, die „Gogo-Bar“, in der man einander an Metallstockbetten ketten konnte, und vieles mehr. Kurz vorm Millenium waren dann jedoch die meisten Restitutionsverfahren durch, und Investoren stürzten sich mit Unterstützung der Stadtpolitik auf alle Flächen und Immobilien, derer sie habhaft werden konnten. Mit der Nachtlebenkultur war es im Scheunenviertel damit peu à peu vorbei.

1998 zog ein Investor auf der Brachfläche der Rosenthaler Straße 43-35 einen Billigneubau hoch, in den neben Edeka und Rossmann auch ein Pflegeheim für Senioren einzog. Bereits 2018 erfolgte sein Abriss. Zu der Zeit waren kleinere Läden, die sich nicht als Head Shops bezeichneten oder Filialen global operierender Ketten waren und weder Schuhe noch Luxusgüter, sondern beispielsweise Schreibwaren oder Orthopädiebedarf anboten, im Quartier mehr oder weniger perdu. Stattdessen eröffneten überall Werbeagenturen beziehungsweise ihre Hauptstadtvertretungen, und ins geschwind entkernte Gebäude des „Eimers“ zog das „Transit“ ein, damit deren Angestellte günstig zu Mittag speisen konnten. Klar, dass da auch die Alten nicht mehr so recht ins junge professionell-hippe Bild passten.

Lifestyle statt Experimente

Ebenfalls wenig Wunder nimmt es, dass nun seit Anfang des Monats Apple mit seinem zweiten Berliner Store in den in Rekordzeit errichteten Rosenthaler Straßen-Neubau direkt an der Tramhaltestelle Hackescher Markt eingezogen ist. In tempelartig hohen, zur Straße hin vollverglasten Räumen werden hier nun Zyklus für Zyklus die neusten Updates der smarten Lifestyleprodukte der kalifornischen Corporation zelebriert. Oder darf sich darüber keiner beklagen, der letztere selbst benutzt, weil es so kommod ist?

Vergessen werden sollte jedoch nicht, dass sich damit ein weiterer Kreis schließt. Denn die Bleeps, Soundschnippsel und Rhythmen im Club wurden selbstverständlich über die Rechner der DJs angesteuert, die immer schon zum großen Teil aus eben jenem Haus gekommen sind, das nun hier einen weiteren Ort für Repräsentation und Verkaufserfolg gefunden hat. Wiederholt sich Geschichte normalerweise als Farce, ist die Entwicklung hier eher einen anderen, wenn nicht den umgekehrten Weg gegangen: vom verspielten Unernst zur handfest durchdesignten aktuellen Form der Profitmaximierung.