Touristen

Eine Erzählung

Das grüne Licht des Apothekenkreuzes beleuchtete den Hauseingang gegenüber. Rot schienen zwei stilisierte A dagegen an, eins übermannshoch im Schaufenster mit Kelch und Schlange in Weiß, das andere mit Kelch und Schlange in negativem Dunkelgrau rechts hoch über dem Trottoire, während der Name der Pharmazie- und Gesundheitsanbieterkette in rückwärtig weiß beleuchteten Buchstaben zwischen Kreuz und kleinerem A knapp vor der Fassade oberhalb der Scheibe schwebte. Doch alles Farbenspiel interessierte in der menschenleeren Allee niemanden, auch nicht der gelb strahlende BVG-Würfel am Zeitungs- und Zigarettenkiosk im Haus daneben, das Hinterglasgefunzel in den anschließenden Geschäften und geschlossenen Cafés oder die grellen City Light Poster der Tramhaltestellen, deren Bespielung in wechselnden Sprachen verkündete, Berlin halte gegen das Virus zusammen, indem seine Bewohner Abstand voneinander wahrten. Einsam hob sich die angestrahlte Kirchturmspitze der Zionskirche über den dunklen Dachgeschossen vor dem Nachthimmel ab. Nur in wenigen Fenstern flackerten noch Film- oder Nachrichtenbilder über riesige Screens, und eine einzelne Tischlampe erhellte ein letztes Arbeitszimmer.

„Fühlt sich wie Sci-Fi an. Postapokalyptisch.“
„Angst?“
„Nee. Zuletzt als Kind. Bei Alien. Da stand der Fernseher als reale Bedrohung im Wohnzimmer. Jetzt sieht die Realität wie eins dieser übertrieben detailverliebten Serienformate aus.“
Sandra stand am Fenster und verlor sich in die entleerte Stadtlandschaft. Fragte sich, wem die Stimme gehörte, mit der sie da diskutierte. Und: worüber eigentlich?
„Die Farben. Ihre Ähnlichkeit“, schlug die Stimme vor.

„Welche Farben?“
„Das Schwarz. Wie die Nacht über Guatemala.“
„Puh. Das ist lang her.“
„Schwarze Dunkelheit.“
„Nächte schwarz, Tage blau.“
„Selten einen so aus seiner Tiefe heraus leuchtenden Himmel gesehen.“
War das, wie hatte er gleich geheißen, Marten? Wie kam sie darauf, ihre Wahrnehmung der größten Krise seit Menschengedenken ausgerechnet mit jemandem abgleichen zu wollen, an den zu denken ihr ein halbes Leben lang nicht eingefallen war?

***

Trotzdem war es noch in ihr. Fahrten im Überlandbus durch die Nacht. Fast konnte sie es spüren: die abgedunkelten Fenster; die Liegesessel; die Vorwärtsbewegung; Martens knochige Schulter, an die sie sich angeschmiegt hatte zum Schlafen, womit sie insgesamt wohl aussahen, wie er es sich wünschen mochte: ein Paar auf Reisen, 1992, für das jede Straße vor allem in eine strahlende Zukunft führte. Das galt, was den Komfort betraf, zumindest für den mexikanischen Abschnitt der Reise. Danach war es eng geworden und voll. Schwitzig, Knie und Rücken zerstörend, inmitten interessierter Blicke und drängender Anteilnahme, die kaum Gelegenheit für innige Momente zwischen ihnen ließ.

In Ciudad Hidalgo hatte der Bus auf einem von Flutlicht erhellten Parkplatz im Nirgendwo gestoppt und sie waren ins Freie gestolpert. Als sich ihre Augen ans Umgebungsdunkel gewöhnten, konnten sie eine lang ansteigende Rampe ausmachen, die auf eine Brücke führte. Vermutlich lag dort der Grenzübergang. Die Müdigkeit steckte ihnen in den Knochen. Jemand sprach sie an, und Sandra zuckte zusammen, obwohl es nur ein Junge war. Er hatte sich von hinten genähert, und nun verhandelte Marten bereits mit ihm. Sah aus wie zwölf, klein und spirrig. Selbst Marten wirkte neben ihm wie ein Ausbund an Kraft und Wohlgenährtheit. Aber sie konnten ja kein mittelamerikanisches Hungerkind adoptieren, damit es ihr gelang, einen Mann als Mann zu ertragen, der nur im Kontrast genug wirkte, dachte Sandra; nicht zu dürr, zu knochig, zu linkisch. Um Familienanschluss ging es in der Situation natürlich nicht. Es ging darum, dass der Junge sie in seiner Fahrradrikscha über die Grenze fahren wollte. Marten schien skeptisch. Legte den hohen Kopf schief und sah zweifelnd auf den Kleinen hinab, der aber nicht aufgab. Er zerrte an Marten, der sich bereits abwenden wollte, und ließ einen weiteren Wortschwall auf ihn los, von dem Sandra kaum etwas verstand. Sie war nur müde. Müde und ein wenig genervt; angestrengt vom Warten darauf, dass irgendetwas passierte, es weiterging. Endlich schnappte der Junge sich Martens Seesack, und der ließ ihn resigniert gewähren. Sie beluden die Rikscha mit den übrigen Taschen und Rucksäcken, stiegen auf, und der Junge warf sich in die Pedale. Das Anfahren gelang allerdings erst, als Marten, so heimlich es eben ging, mit einem Bein mit anschob. Quälend langsam arbeiteten sie sich über die leere Fläche des Parkplatzes. Ließen das Dieselmotorgeräusch des Busses hinter sich und wechselten in den Bereich des anschwellenden Zikaden- oder was auch immer Gezirpes. Dann begann die Steigung, und Sandra spürte, wie neben ihr das Bedürfnis dringender wurde abzusteigen, damit der Junge eine Chance bekam, seine Fuhre bis auf den Scheitel der Brücke zu bringen. Andererseits wollte Marten ihn jedoch nicht beleidigen und verharrte unentschlossen.

„War das so?“
„Keine Ahnung. Ich glaube. Ich war so unglaublich müde.“
Martens Stimme lachte. „Ich erinnere mich vor allem an den Grenzer und sein ‚Heil Hitler‘ beim Blick auf unsere Pässe. ‚Germany!‘ hat er anerkennend ausgerufen und den Daumen hochgerissen, und ich musste mich zusammennehmen, um ihm nicht in die verquollene Fresse zu spucken.“
„Spucken?“
„Ja. Das war seltsamer Weise mein Impuls. War aber sicher schlauer, dem nicht nachzugeben.“
„Sicher.“

Marten hatte auch sonst einigen seiner Impulse nicht nachgegeben. Sie hatte ihn zufällig in der Schlange vor dem Bankschalter in San Pedro Pochutla getroffen. Zehntausend Kilometer entfernt von zu Hause, wo sie sich zuvor ab und zu von fern gegrüßt hatten, bei Kneipenabenden im Kommunikationszentrum auf dem Unicampus. Das reichte hier, um spontan eine gemeinsame Woche am Strand von Zipolite zu verbringen. Im Meer herumzuspringen, zu trinken, zu reden, zu rauchen und sich gegenseitig im Sand einzugraben. Marten war witzig und unerschrocken. Wie sie war er allein unterwegs. Hatte sich von einem Österreicher in einer Hütte über der Bucht mit einer im Wesentlichen aus einem halben Kugelschreiber und einem Elektromotor mit daran befestigter Kanüle bestehenden Maschine tätowieren lassen, ohne das Motiv vorher genau abzusprechen oder sich durch die Infektionsgefahr von der Idee abbringen zu lassen. „Wie denn sonst?“, war seine Gegenfrage, als sie wissen wollte, ob ihm das so nicht als bisschen heikel erschienen sei. Nun saß er halt in regelmäßigen Abständen da und erneuerte die Schutzschicht aus Vaseline, mit der er die Wunde an seinem Oberarm gegen Viren und andere Umwelteinflüsse abschirmte.

Nur ihr gegenüber reagierte er ab einer bestimmten Nähe nicht mehr impulsiv. Nachts ließen sie sich unter einem riesigen tropischen Sternenhimmel betrunken und nackt von den Wellen hin und her werfen, aber kein einziges Mal versuchte er, den Arm um sie zu legen oder sie zu küssen. Dabei war Sandra sicher, dass er sich danach verzehrte. Sie ihrerseits wusste nicht, ob sie sich Berührung wünschte. Mal wollte sie, dann wieder stieß sie etwas ab, das sie gar nicht genau beschreiben konnte. Er kam ihr nicht fertig vor. Zu knöchern. Staksig. Zerbrechlich. Was sollte sich darauf aufbauen lassen?

***

Seit Jahren hatte sie nicht an Marten gedacht. Oder höchstens kurz, wenn sie beim Auf- oder Umräumen in einem Karton auf die wenigen Fotos gestoßen war, die es von ihnen gab: sie beide nebeneinander mit Bierflaschen in den Händen in einer Hängematte in ihrer Hütte in Zipolite; oder vor dem Hotel im Hochland Guatemalas außerhalb der Stadt, wo die Nächte immer so schwarz und menschenleer gewesen waren wie hier und heute während des Shutdowns. Zumindest, wenn man von den Sternen absah. Warum sie gerade jetzt ausgerechnet Martens Stimme halluzinierte, die sie gar nicht mehr erinnern konnte, blieb unklar. Konnte sein, dass er ihr an der Duschstelle am Strand das Leben gerettet hatte, als sie sich vielleicht ein wenig zu kindlich über den Skorpion gefreut hatte, den sie aus seiner Ecke auf ihre Hand gehoben hatte. Marten hatte ihn weggeschlagen und die Augen gerollt. Vielleicht wäre sie ohne diesen wenig sanften Eingriff seinerseits gar nicht hier, um die Veränderungen der Welt um sie herum zu beobachten. Doch das war reine Spekulation. Leben war auf Schritt und Tritt gefährdet, schien es.

Dieses Gefühl allerdings war neueren Datums. Damals waren sie großteils schlafwandlerisch durch die Gegend gefahren. Von heute aus schien ihr gesamtes Leben zu jener Zeit, aus welcher Minimalarbeits- oder Verantwortungsperspektive heraus man es auch betrachten mochte, in einem seltsam unwirklichen Schwebezustand gefangen. Klar waren sie naiv gewesen. Das waren schließlich alle jungen Leute. Bei ihnen hatte es jedoch nach Programm ausgesehen. So wusste sie, dass Marten sich sein Flugticket nach Mexiko einer spontanen Eingebung folgend gekauft hatte, nur weil ihn der Klang des Wortes angezogen hatte. Der Sound, wie er sagte. Dass er von Deeffe dann nach Süden gefahren war: ebenfalls reiner Zufall. Er hatte mit jemandem gesprochen, der ihm erzählte, alle machten das so. Zumindest diejenigen, die den Durchblick hätten. Die nicht in Richtung Karibik fuhren, wo man auf amerikanische Senioren und Massentourismus treffe. Nach Guatemala, sozusagen weiter hinein ins Herz Mittelamerikas, zu gehen, war dann ihr Vorschlag gewesen. Marten hatte sofort ja gesagt.

Im Morgengrauen gingen im Wartesaal der Grenzstation Mezqual- und Tequilaflaschen zwischen einander unbekannten Reisenden um. Sandra schlief auf ihrem Sitz, Marten trank mit. Sie wusste, dass er ein Auge auf sie haben würde. Der Bus fuhr am frühen Vormittag. Überbelegt und offensichtlich untermotorisiert brachte er sie zusammen mit indigenen Männern, Frauen und Kindern in bunten Trachten durch enge Täler und unzählige Militärkontrollen ihrem Reiseziel näher. Offene Gesichter, die sich ihnen gerade noch mit einer Frage auf den Lippen zugewandt hatten, wurden bei jeder Drosselung des sowieso nicht eben schwindelerregenden Tempos in nervöses Zucken versetzt. Gespräche, die in Gelächter hatten münden wollen, verstummten. Wenigstens drei Mal innerhalb weniger Stunden mussten sie alle den Bus verlassen, eine Schlange bilden und ihre Papiere vorzeigen. Mit den Soldaten, die die Kontrollen durchführten, war auch am helllichten Tag nicht zu spaßen, das stand in ihren Blicken und der geduckten Haltung der Kontrollierten, während sie auf das Ergebnis der Überprüfung warteten. Marten und Sandra erhielten ihre Pässe jedes Mal wortlos zurück, ohne dass den Gesichtern der Kontrolleure eine Regung anzusehen war. Im eingespielten Freund-Feind-Schema war für sie kein Platz vorgesehen.

               ***

Guatemala fühlte sich anders an als Mexiko. Die Vegetation im Hochland war auf fast verschlingende Weise üppig, statt pazifischer Weite gab es bewaldete Hügel, jähe Abbrüche und an manchen Hängen temporär wirkende Narben brandgerodeter Flächen. Ihr Hotel in Chichicastenango lag der Stadt gegenüber auf einem Bergkamm mit weiter Aussicht über die umliegenden Täler, war sauber, und von über der Rezeption blickte – absurd genug – aus einem mächtigen Rahmen Bundespräsident Richard von Weizsäcker beschützend auf sie nieder. Nicht weit entfernt erstreckte sich ein Friedhof mit farbprächtig gestalteten Grabmalen über hügeliges Terrain, eine eigene Stadt der Toten, Oase der Ruhe und Gegenpol zur Betriebsamkeit der Märkte, religiösen Feiern und Prozessionen des Zentrums. Marten streifte für Stunden zwischen den Gräbern umher, versank in der Betrachtung christlicher wie indigener Todes- und Zeitlichkeitssymbole, während Sandra es nach einem ersten Rundgang vorzog, sich auf die Hotelterrasse zurückzuziehen und zu lesen. Dort lagen sie auch nachts, nachdem mit Einbruch der Dunkelheit das Leben des Ortes, wie es schien, mit einem Schlag zum Erliegen kam und der Singsang der Geschäftigkeit, der bis dahin geherrscht hatte, verstummte. Von ihren Plastikliegen sahen sie in die Sterne und unterhielten sich, bis es zu kalt wurde.

Tagsüber atmeten sie den Weihrauch, der in und vor der Kirche Santo Tomás viele Stufen über dem Markt geschwenkt wurde. Sie bestaunten bunte Teppiche, Decken und Masken an überbordenden Ständen, aßen an Garküchen Tamales oder Empanadas mit Reis, Bohnen und Hühnerfleisch und spielten im fensterlosen Innenraum einer Bar Kicker mit K‘ichekindern, die nicht glauben konnten, dass die Deutschen mit einem Flugzeug vom anderen Ende der Welt gekommen waren. Und zwar offensichtlich aus keinem anderen Grund, als ihnen Fragen zu stellen und mit ihnen die Zeit totzuschlagen.

Wenn sie Jairo, Hans, Gabriela, Stephannie und zwei bis drei weiteren sehnig hochenergetischen Gestalten, die für sie namenlos blieben, die sie aber immer wieder trafen, andersherum Fragen nach ihrem Alter – Anfang zwanzig – und der Anzahl ihrer Kinder – null – beantworteten, ernteten sie unverhohlenes Gelächter. Hans fragte Marten, ob denn etwas mit ihnen nicht stimme, und schoss, während der noch überlegte, ein Tor. Stephannie erklärte ihnen, dass hier mit fünfzehn sechzehn ein drittes Kind als normal angesehen würde. Eine ihrer Schwestern, verkündete sie nicht ohne Stolz in der Stimme, habe mit 18 bereits fünf, eine andere, jüngere zwei, ihre Neffen Estuardo und Daniel, mit denen sie sich offensichtlich besonders innig verbunden fühlte. Sandra sah sie aus großen Augen an. Versuchte, Stephannies Alter zu schätzen. Elf oder zwölf, hätte sie gedacht, war sich aber unsicher. Je nach Gesprächssituation oder Blickwinkel konnten die Kinder mit einem Mal deutlich erwachsener oder wieder jünger wirken. Als Schwangere jedenfalls konnte sie sich das Mädchen genauso wenig vorstellen wie eins der anderen. Das gelang ihr ja nicht einmal in Bezug auf sich selbst, auf ihren eigenen deutlich entwickelteren Körper, und wenn sie es versuchte, verursachten ihr diese Bemühungen höchstens unheiliges Erschauern, wenn nicht Übelkeit.

               ***

„Wir hatten damals einfach kein Konzept.“ Hatte sie das jetzt gesagt oder er? Spielte es eine Rolle? Fand ja eh in ihrem Kopf statt.
„Immerhin wussten wir, was wir nicht wollten.“
„Keine Ahnung, was wir wussten. Wahrscheinlich viel zu wenig. Aber es war uns egal. Lief ja alles.“

Also streiften sie weiter über die Märkte und kauften Decken und schwarze Leinenhosen mit goldenen Stickereien und Dinge, die sie niemals brauchen würden. Aus irgendeinem Grund waren sie verrückt danach. Später am Tag gerieten sie in eine der Prozessionen, die ihr von heute aus betrachtet wie direkt aus einem absurden Autorenfilm à la Dennis Hoppers Last Movie übernommen vorkamen, den sie damals noch gar nicht kannte. Sie saßen auf den Stufen von Santo Tomás und tranken ihre nachmittäglichen Dosen Gallo, das nationale Lagerbier, als sich unter Führung eines weihrauchschwenkenden Priesters eine singende und murmelnde Menschenmenge aus dem Kircheninneren in die Stadt ergoss und sie mitriss. Männer mit konzentriertem Gesichtsausdruck und leiernden Stimmen trugen bunt gewandete Reliquien auf den Schultern, Frauen stießen Rufe aus, die eine Art Refrain bilden mochten, und dem Zug strömten vom Markt her weitere Teilnehmer zu. Sandra und Marten versuchten sich in ihm zu bewegen wie die Revolutionäre, als die sie sich auch sahen, im Volk, ließen sich aber einige Ecken weiter aus dem religiös-trunkenen Tumult, den sie nicht verstanden, doch wieder ausspeien. In Oaxaca in Mexiko hatten sie, unabhängig voneinander, politische Demonstrationen indigener Bauern mitbekommen, die kämpferisch gewesen waren und in Straßenschlachten mit Polizeikräften endeten; das hier war anders. „Vielschichtig“, schlug Marten vor. Trotz, Unterdrückung, Resignation, Glaube, Hoffnung, alles Mögliche ließ sich in diese Manifestation hineininterpretieren, und so wenig sie konkret über die Verhältnisse im Land wussten, war doch klar, dass es sich noch immer, wenn auch offensichtlich niedrigschwellig, im Bürgerkrieg befand. Irgendwann später trafen sie den Zug wieder und dann noch einmal, und jedes Mal war er kürzer geworden und hatte mehr betrunkene Männer hinterlassen, die entlang seines Weges im Straßengraben wie tot schliefen. Wann sie wieder zu sich kamen, wussten Sandra und Marten nicht. Jedenfalls erst nach Einbruch der Dunkelheit. Aber da gehörte die Stadt den Patrouillen des Militärs, und sie saßen in ihrem Hotel auf der Terrasse.

               ***

Schon damals hatte es diesen Abstand zur Welt gegeben, den sie aktuell in ihrer Homeoffice-Quarantäne spürte, und der, ob sie es wollte oder nicht, das Thema ihres Lebens zu sein schien. Marten hatte sie, wie sie weiter in die Straßenschlucht blickend dachte, fast schon wieder vergessen – fühlte sich an, als habe er sich von ihr zurückgezogen, sie nur im Vorüberziehen gestreift, ein Geist, der seine Schuldigkeit getan hatte. War er dann jetzt erlöst? Sandra überlegte, ob sie in den Tiefen ihrer Schränke nach den Bildern von damals suchen sollte, um ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Aber wozu? Sie hatte Marten nie gebraucht, außer in diesen wenigen Wochen geteilter Zeit, nach der sich ihre Wege getrennt hatten. Im Anschluss hatte sie weder über ihn nachgedacht noch ihn vermisst. Selbst den einzigen Schritt, den sie in Chichicastenango oder auf der gesamten Reise getan hatte, um aus der Isolation ihres Daseins als Fremde in der Fremde auszubrechen, hatte sie ohne ihn getan. In der Kicker-Bar hatte sie am frühen Abend eines ihrer letzten Tage einen Moment abgewartet, in dem Marten mit Hans und Jairo ganz vom Spiel absorbiert war, um Stephannie mit verschwörerischer Mine die originalverschweißte Packung ihrer „Pille danach“ zuzustecken, die sie im Rahmen der Reisevorbereitungen selbst über mehr oder weniger abenteuerliche Kanäle besorgt hatte. Für alle Fälle. Aber wer sagte, dass diese Fälle nur sie betreffen konnten. Stephannie sah sie verwundert an, und irgendwie gelang es Sandra, ihr durch Dringlichkeitsgrimassen sowie eine minimalistische Pantomimeeinlage Richtung und Vertraulichkeit ihrer Gabe zu vermitteln. Das Mädchen wurde puterrot, versteckte das Geschenk, das sie offensichtlich lieber von sich geschleudert hätte, in ihrer Kleidung und hielt von da an den größtmöglichen Abstand zu Sandra. Die brauchte erst einmal ein neues Bier, fand, als die Aufregung nachließ, aber bald, dass sie gut daran getan hatte, sich – wie unbeholfen auch immer – eingelassen zu haben.