Tag 13 der Corona-Krise in Berlin, wenn man als Tag eins Mittwoch, 11. März annimmt. Das war der Zeitpunkt, als weite Teile der Kultur heruntergefahren wurden und Theater, Opern- und Konzerthäuser schlossen. Es ist kalt und die Sonne strahlt vom Himmel, der, glaubt man der Nacherzählung der Wettererklärung des HR-Fernsehens, nicht zuletzt deshalb so unglaublich klar ist, weil es aufgrund des darniederliegenden Flugverkehrs kaum noch Kondensstreifen, vulgo Chemtrails, gibt. Wenn’s mit weiterem Nachtfrost noch hart kommt, könnte das nicht nur für Verschwörungstheoretiker ein ernsthaftes Problem darstellen, sondern auch für die sowieso unter Stress geratenden Spargelbauern und die aufblühende Vegetation im Allgemeinen.

Isolation Berlin

Aber zurück in die Stadt und in die Isolation. Da sonst nicht viel zu tun ist, gehe ich Facebook und like den Post eines Freundes. In ihm heißt es, als Zitat über das Konterfei des Charité-Virologen Christian Drosten gesetzt: „In der aktuellen Situation sage ich eindeutig: Bleibt besser zu Hause! Geht nicht in Clubs, nicht auf Partys – trefft euch im kleinen Kreis und organisiert euch gegen Staat und Kapital!“ Haha! Ist doch schön, wenn die Dramatik der Lage nicht bei allen die Lust auf Witz und Satire einfach hinwegfegt. Auch hübsch: Rico Lees Wohnzimmerkonzerte, von denen es seit ungefähr einer Woche alle zwei Tage ein neues gibt.

Durchs Herunterfahren nicht so sehr des kulturellen, wohl aber des Arbeitslebens, sollte sich, erweist sich die Krise als ernst und anhaltend genug, neben allen Nöten und Ängsten doch auch die Chance auf einen Neustart bieten. Wer das glaubt, muss weder Zyniker sein noch besonders naiv. Was vom schon lange nicht mehr als besonders links gehandelten Slavoj Žižek über den vom Spiegel mal wieder aus dem Hut gezauberten Herfried „Ich halte es für möglich, dass man später von einer Epochenwende im Jahr 2020 sprechen wird“ Münkler bis zu den Berliner Freundinnen und Freunden der klassenlosen Gesellschaft eigentlich jeder wissen kann, der sich dafür interessiert, ist doch, dass das System unseres Wirtschaftens und also unseres Verhältnisses zur Welt und zueinander, der Kapitalismus, ob er sich nun neoliberal oder sonst wie schimpft, seit langem angezählt ist.

Krise und Utopie

Und nicht nur ein wenig. Zu direkt gründen die wesentlichen der in Form von Krisen immer wieder aufscheinenden Schwierigkeiten der Befriedung des Gesamtzusammenhangs – Massenarbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Zentrum-Peripherie-Dilemmata, Finanzkrisen, der Aufstieg rechter Politik, ungezügelter Ressourcenverbrauch, Umweltzerstörung etc. – im Hauptwiderspruch der kapitalistischen Wertform selbst.

Im normalen Fortschreiten und Vollzug der Spirale Geld-Ware-mehr Geld lassen sich die entfesselten Produktivkräfte und das an ihnen hängende fragmentierte Spezialwissen technischer oder ökonomischer Experten in der Regel nicht mehr gesellschaftlich rückkoppeln. Produktion fürs Gemeinwohl scheint schon lang kein Auslaufmodell mehr, sondern höchsten noch Erinnerung an eine hübsche Utopie.

Schocks und neue Umgangsformen

Krisen und Krankheiten sind für von ihnen Betroffene nie angenehm, und im Fall der Corona-Pandemie gibt es wenige, die nicht auf die eine oder andere Art betroffen sein werden*. Jenseits persönlich erfahrenen Leids können sie aber wie der Schock einer Ohrfeige in einer kaputten Beziehung funktionieren, die die Geschlagene (oder den Geschlagenen) – so die Hoffnung – aus der Starre des schlechten Lebens weckt, in der sie (oder er) sich viel zu lang eingerichtet hat.

Im tatsächlichen anders machen, in der Herausbildung neuer Umgangsformen, Modi der Rücksichtnahme und Solidarität erscheinen möglicherweise Grundmuster neuer Arten des Umgangs miteinander**. Und das heißt auch, dass auf Fragen danach, wie mit auflaufenden Schulden, sich vergrößernden Abhängigkeiten und verfestigenden Ausschlüssen im Sozialen umgegangen werden kann und soll, neue Antworten gefunden werden müssen. Staatlich aufgelegte Hilfsfonds werden das nicht lösen.

Der Traum ist aus

Alles Tagträumereien, weil die Interessen der Stärksten und der Rackets sowieso Mittel und Wege finden, sich zuletzt wieder durchzusetzen? Wunschdenken, weil es anders und nämlich genauso kommen wird wie immer: Die Kleinen und Schwachen werden den Preis zahlen; die Kultur kommt, wo sie noch emanzipatorisch und selbstbestimmt sein will, zum Erliegen und erfährt ihre Restauration als reaktionärer Gesellschaftskitt; die Ungleichverteilung von Lebenschancen schreitet in unbekanntem Maße fort, statt überwunden zu werden?

Durchaus möglich. Aber bis es soweit ist, ist das letzte Wort in der Sache nicht gesprochen. Und wer nicht wenigstens träumt, wird, wenn es darauf ankommt, nicht weiterkommen; schon, weil ihr oder ihm der Begriff dafür fehlt, was er oder sie wollen soll.

*Fast selbstverständlich sind Frauen im Zusammenhang mit COVID-19 den Härten im Gefolge anders und stärker ausgesetzt als Männer, aber das nur am Rande.

**Immerhin gibt es neben vielen Unternehmer_innen in der Gastronomie-, im Veranstaltungsbereich und anderswo, die nicht zuletzt nach Möglichkeiten zur Weiterfinanzierung ihrer Mitarbeiter_innen während der Zeiten von Schließung und Stillstand suchen, auch Kleinstverleger, die eigene Unterstützungsfonds auflegen, um die Engpässe der für sie arbeitenden Kritiker_innen im Notfall überbrücken zu helfen. Respekt dafür!