Seit dem 9.3. hat das Gebell einen festen Ort. Gemeinsam mit Ulrike Helms stelle ich bei „Tati liest underground“ kurze Texte und Auszüge aus größeren Projekten vor. Dazu laden wir Gäste ein. Beim letzten Mal Gesa Ufer, die ihren Beitrag aus einer radioeins-Kompilation vorgestellt hat, und Park (solo) mit Songs über Liebe, Wetter und Nahverkehr. Soll weitergehen. Nächster Termin: 27.4.

Hier mein kürzester Text vom letzten Mal:

 

Lagerkoller

Scheiß auf Havanna!, sagt Marie, die Architektin.

Damit schneidet sie Franks Erzählung vom letztjährigen Kubaaufenthalt das Wort ab. Frank sieht sie konsterniert an, zuckt aber die Schultern und hüllt sich in Schweigen. Marie schiebt die Kaffeetasse von sich, wischt mit Links Krümel vom Tisch auf ihre Hose und auf den Boden, grinst und fährt fort: Scheiß auf Davos, scheiß auf alles! Scheiß auf Venedig, scheiß auf La Grave, scheiß auf Kassel! Vor allem auf Kassel und den ganzen Kunstquatsch. Alles Verzettelung! Scheiß auf Materialkunde, klimaneutrale Schulgebäude, auf unfähige Verwaltungen, Sparzauderer, engagierte Eltern! Scheiß auf Berlin, Berlin nervt.

Keiner sagt etwas. Maries Blick gleitet über die Gesichter am Tisch. An Patricks bleibt er hängen, und gleich macht sie weiter: Geh nicht ins Berghain! Von mir aus stell dich in die Schlange und verweigere den Eintritt, wenn du an der Reihe bist; aber erzähl bloß keinem davon! Von deinem so genannten Way of Life, auf den du dir sonstwas einbildest. Warum eigentlich?

Patrick lacht. Kai fragt, was ist denn mit dir los?

Marie sieht ihn an und möchte nur schreien. Versucht in seinem Gesicht zu erkennen, was sie dort einmal gefunden hat. An Vertrautem, Liebenswertem. Sie weiß, es muss da etwas geben, das sich nicht einfach verflüchtigt haben kann, wenn es vielleicht auch verdeckt sein mag von vielen Schichten aktueller Lebensrealität, die sich wie eine Panade aus Langeweile über alles legt, das einmal ursprünglich, echt oder zu entdecken gewesen ist.

Sie sitzen im Esszimmer ihrer Ferienvilla, die sie ein halbes Vermögen hätte kosten müssen, für die sie den Preis als Wiederholungstäter aber haben drücken können. Immerhin kennen sie sich aus, haben Erfahrung in Verbraucherfragen und können verhandeln. Wogegen sie nichts tun können, ist, dass das Wetter ihren Aktivitätsplänen seit Tagen einen Strich durch die Rechnung macht und sie mit sechs Erwachsenen und vier Kindern zwischen vier und fünfzehn Jahren im luxuriösen Inneren des Hauses festhält. Was, wen wundert’s, zu vielfältigen Diskussionen führt, von Erziehungsfragen bis zur Klage über die Inszenierung der Koalitionsverhandlungen, von Filmbewertungen bis zu Vorschlägen, wie die Welt in ihrer Funktionalität vom Alltäglichen aus verbessert werden könnte. Alles nichts als Gelaber, denkt Marie.

Scheiß auf Solarzellen, poltert sie, auf Windkraft, auf jeden Eingriff in die so genannte Natur, scheiß auf den Menschen! Scheiß auf den Klimawandel, auf jede realisierte Sekunde in der Geschichte des Universums, auf fehlenden Sinn und fehlendes Spielgeld! Fick das System, fick die SPD, den Schulz mit den Haaren im Gesicht statt auf dem Kopf, an den sich eh bald schon keiner mehr wird erinnern können. Fick die Kanzlerin der Aussitzer, die AfD und die Reichsbürger, die Bubbles der weltweiten Gentry-Ärsche und ihre Mauern und Zäune! Die Grenzen, Lager, Helikopter, Gewehre, das Qualitätsversprechen des Made in Germany, die Schaltzentralen der Scheinheiligkeit! Leckt mich mit Exellenzinitiativen, Vorzeige-Universitäten, Think Tanks, albernen Beratern und den so genannten Markt- und Marketingwissenschaften! Jedes „Yes, we can“ kann mir genau so gestohlen bleiben wie die Greatness of was auch immer. Fuck #MeToo und die Lügenpresse, die Staatsmedien und alles, was nach Bildungsauftrag riecht! Erstickt unter euren Alu-Hüten, sterbt aus Angst vor den Monstren, die euer Hass abspaltet und die schon seit langem nach nichts als neuen Folter- und Tötungsmaschinerien geifern! Vergesst alle Anstrengungen, Wasser zu filtern und zu reinigen, alternative Wirtschaftskreisläufe, Achtsamkeit, Pilates, Biolandwirtschaft und was es an Ablenkung vom Vertigo des Verlusts des nie dagewesenen noch gibt! Reißt euch das Imaginierte in seiner Gesamtheit aus den Köpfen und Körpern, löst alle Verbindungen auf, vereinzelt euch, fügt euch in euer schreiendes Unglück aus Unbehaustheit, Hunger und Leere – aber vor allem: bleibt mir damit vom Leib!

Kai hört das und fragt sich, ob er den Unrat, der da aus seiner Frau und seinem Halt im Leben kommt, vielleicht irgendwie wegwaschen könnte. Aber das würde ihn gleich wieder in viel zu einfach umgekehrte Rollenklischees drängen, die er momentan gern umginge. Wenn nur nich immerzu die Notwendigkeit gegeben schiene, sich gerade als Mann ausgesprochen weiblich zu verhalten, damit nicht alles noch schlimmer wird! Andererseits könnten auch Gift oder eine Axt helfen, wenn sich Maries Laune und Rammdösigkeit nicht bald aufhellen. Hört ihr eigentlich außer ihm sonst noch wer zu? Jens hat sich, wie Kai sieht, unter seine Kopfhörer und zu seinen Arbeits-E-Mails im Rechner zurückgezogen. Die Jugendlichen schauen ebenfalls auf ihre schlauen Geräte – immerhin zusammen. Warum sagt eigentlich Isabell nichts? Die schöne, trainierte Isabell, die doch jetzt mal eine ihrer berüchtigt treffsicheren Bemerkungen raushauen könnte, um Maries Amokmonolog zu stoppen. Tut sie aber nicht. Stattdessen ist immer noch Marie am Zug, rät jetzt: Haut euch die Schädel ein, labt euch am Blut eurer Nächsten, geht vor die Hunde, in die Knie, zittert, schlottert und ächzt! Sterbt aus! Besser wird es nicht, macht euch vom Acker, vergesst New York, Dubai, die Biosphäre zwei und die Besiedelung von Mars und Mond! Heult mit den Wölfen, und denkt nicht, ihr hättet mehr zu sagen als sie! Das hatten weder die Aufklärer der Renaissance noch die Dichter der Romantik, und weder an die einen noch die anderen reicht ihr im Entferntesten heran.

Da endlich fängt Theo an zu weinen und übergibt sich gleich darauf auf den Tisch. Kai schüttelt den Kopf in Maries Richtung. Die schüttelt zurück, rollt die Augen, greift nach der Küchenrolle und dem Kind, während die andern sich langsam entspannen.

Morgen soll übrigens die Sonne scheinen, meldet Jens aus der Deckung seines improvisierten Computer-Arbeitsplatzes.