„Als der Sommer kam, der die Welt verändern sollte, drapierte ich mein Bettzeug so, dass es aussah, als läge jemand darin, öffnete das Fenster und sprang in die Nacht.“ In seinem Roman 89/90 beschreibt Peter Richter das letzte Jahr der DDR und das Chaos der Wendezeit in Dresden als Geschichte des Erwachsenwerdens. Material sind ihm die eigene Biographie und Beobachtungen aus seinem Umfeld. Es geht um erste erotische Erfahrungen, die richtige Musik und die Planung zukunftweisender Bandprojekte. Wer dazugehört, trifft sich nachts im Freibad, nennt Bullen Flics und die Einkaufsstraße die Rue. Zum Umgang mit Propaganda und vormilitärischer Erziehung hat jeder persönliche Strategien, und ausgerechnet die eigene Freundin ist überzeugte Kommunistin. Doch dann bleibt die Stadt nach den Sommerferien leerer als in anderen Jahren, weil viele aus Ungarn oder Prag nicht mehr zurückkehren. Mit der Wende bricht die Zeit der Straßenschlachten an. Cliquen und Freundschaften zerbrechen, Gewalt und Kriminalität erhalten Einzug in die zuvor geordnete Welt.

„Das knappe Jahr zwischen Mauerfall und Beitritt war vielleicht nicht nur das beste Jahr der DDR, sondern auch das folgenreichste der Bundesrepublik. Es ist der Nullpunkt, von dem aus man sich noch einmal anschauen kann, wie alles Mögliche auch hätte anders laufen können. Es ist das Jahr, in dem ein beträchtlicher Teil Deutschlands sich im Zustand einer echten Anarchie befindet. Mit allen Herrlichkeiten, die so etwas mit sich bringt. Und mit allem Horror“, fasst Peter Richter zusammen. Dem Verschwinden von roten Fahnen und dazugehöriger Propaganda folgen erste Erfahrungen mit dem Westen und schnell eine neue Bedeutung von Rot:

„Wir sitzen in der Planwirtschaft […] und plötzlich fliegt mit einem Knall die Türe auf, […] der Skinhead O. […] latscht rein mit seiner Gang und hat einen Baseballschläger über die Schulter gelegt wie Obelix, dem er ohnehin nicht unähnlich ist, seine Keule, und den haut er, einerseits nur so aus dem Handgelenk und andererseits aber wiederum dermaßen wuchtig auf unseren Tisch, dass alle, die drum herum sitzen, aus ihren Sitzen gehoben werden. So, Sportsfreunde, sagt daraufhin der O. in seinem starken Dialekt: Jetzt poch ich euch, bis die rote Limonade kommt.
Und das tut er dann auch.“

Eigentlich kaum zu glauben, dass sich das auf die Bühne bringen lässt. Aber Claudia Bauers Inszenierung am Leipziger Schauspiel gelingt es, Inhalte und Stimmung des Buchs zu erhalten und sie mit den Mitteln eines Theaters, das deutlich an den Errungenschaften Marthalers, Schleefs und Castorfs Volksbühne insgesamt geschult ist, sogar noch anzureichern.

Schauspiel Leipzig 89/90 Nach dem Roman von Peter Richter Für die Bühne bearbeitet von Claudia Bauer und Matthias Huber Leitung Regie: Claudia Bauer Bühne: Andreas Auerbach Kostüme: Andreas Auerbach & Doreen Winkler Musik: Peer Baierlein Chorleitung: Daniel Barke Dramaturgie: Matthias Huber Licht: Veit-Rüdiger Griess Besetzung Wenzel Banneyer Chor Andreas Dyszewski Roman Kanonik Anna Keil Tilo Krügel Denis Petković Annett Sawallisch Bettina Schmidt

In räumlich und zeitlich mehrdimensionalen Versuchsanordnungen werden Richters Sätze neu angeordnet, übereinander geschichtet, wiederholt und gegeneinander gestellt. Chöre und Choreografien verwandeln Versprechen und Leere der Ideologie in Körperlichkeit und Klang, auf die im zweiten Teil die mehrstimmig vorgetragenen Berichte von Gewaltexessen antworten. Als melancholischer Kommentar stellt die Livekamera den Bezug zu Gegenwart und Erzählposition dar.

Sehr zu recht wurde das Stück in diesem Jahr zu den Berliner Theatertagen eingeladen. Schade nur, dass die Wiederaufnahme in Leipzig nicht ausverkauft war. Etwas mehr Applaus hätte man ihr gewünscht.

Foto: (c) Rolf Arnold