Alles beginnt mit Gesteinsbrocken, die sich zu symphonischen Klängen sacht durch die Weite des Alls bewegen. Nach Schwarzblende und Titeln erscheint das Gesicht einer Frau in äußerster sexueller Erregung – Veronica (Simone Bucio). Als das Bild sich weitet, wird klar, dass sie sich in einer spärlich eingerichteten Hütte unter der Aufsicht eines hippiesken Forscherpaares dem Tentakel einer außerweltlichen Kreatur hingegeben hat. Sie will mehr, aber das Wesen verletzt sie. Mit einer klaffenden Wunde an der Seite und roten Blutflecken auf der weißen Bluse stolpert sie aus der Dunkelheit der Hütte ins grelle Licht einer traumartig nebelverhangenen Landschaft.

 

Hypersexualisierte Freudlosigkeit und das Andere

Mit dem nächsten Schnitt erleben wir in einer statischen Einstellung das Erwachen der zweiten Protagonistin des Films, Alejandra (Ruth Ramos). Noch vor dem ersten Wort dringt ihr Mann Angel (Jesús Meza) im Halbschlaf von hinten zu routiniertem Morgensex in sie ein, womit der Film mitten im hypersexualisierten Alltag einer mexikanischen Provinzstadt angekommen ist, die für Frauen vor allem Freudlosigkeit, für Männer Infantilisierung bereithält. Ein Liedtext, den in der Bar alle mitsingen, bringt die Verhältnissen auf den Punkt: „Das Leben ist nichts wert. Es fängt mit Weinen an und hört mit Weinen auf.“

Aus dem nur auf den ersten Blick irren Aufeinanderprallen ungezähmter kosmischer Lust und genauer Beschreibung gesellschaftlicher Enge speist sich die Kraft von Amat Escalantes „The Untamed“, der diese Woche endlich auch in einige ausgewählte deutsche Kinos kommt. Jenseits von Schockmomenten und Provokation durch Tentakel-Pornographie geht es dem Regisseur in seinem vierten Film vor allem darum, neue Wege zu finden, das zu zeigen, was eigentlich unvorstellbar oder wenigstens mit herkömmlichen Mitteln kaum zu zeigen ist: das radikal Andere einer befreiten menschlichen Natur.

 

Preise für erzählerische Wucht

Escalante ist Autodidakt – und von Anfang an ein Festspiel-Liebling. Alle seine Filme haben es nach Cannes und auf zahlreiche andere bedeutende Festivals geschafft. Schuld daran ist wohl in erster Linie sein akribisch naturalistischer Erzählstil: In sorgfältig komponierten Bildern beobachtet er unaufgeregt die Entwicklung seiner Protagonisten und setzt sie immer wieder allgemeiner Abstumpfung und gesellschaftlichen Verhärtungen aus, die in plötzlichen Eruptionen von Gewalt auf den Punkt kommen. Da das in der Regel wie nebenbei geschieht, bleibt es dem Zuschauer umso länger im Gedächtnis.

Während ihm die Wucht seines Kinos den Weg in den Mainstream verstellt, hat sie ihm umso verlässlicher Auszeichnung um Auszeichnung eingebracht. Sein bislang wohl eindrücklichstes Werk, „Heli“, eine Erzählung vom Verstricktwerden eines Fabrikarbeiters in die Exzesse des mexikanischen Drogenkriegs, wurde 2013 in Cannes mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. „The Untamed“ erhielt 2016 in Venedig den Silbernen Löwen derselben Kategorie.

 

 

Dabei war es Escalantes erklärtes Ziel, bei „The Untamed“ alles ein bisschen anders zu machen. Das fängt damit an, dass er die Laien seiner früheren Arbeiten durch, wie er im Presseheft sagt, „Leute, die tatsächlich an Schauspielerei interessiert waren“ ersetzt hat. Die „die rohe Realität“ seiner Filme war er „etwas leid“. Stattdessen bringt er nun Kinoversatzstücke zusammen, die so – außerhalb besonders abgründiger Spielarten des (vornehmlich japanischen) Extrem-Autorenfilms à la Takashi Miike – kaum jemand in Beziehung setzen würde.

 

Der Horror des Lokalen und sein Platz in der Filmgeschichte

Wie bereits angedeutet, gibt es auf der einen Seite die Geschichte der berufstätigen Hausfrau und Mutter Alejandra. Sie erzieht zwei Söhne und führt ein provinzielles Familienleben. Heuchelei, stark konservative Werte und Machismo prägen den kleinstädtischen Alltag. Besonders ihr Mann Angel stellt beständig eine unangenehme Homophobie zur Schau, durch die er die eigene intime Beziehung zu Alejandras Bruder Fabian (Eden Villavicencio) zu überspielen hofft.

Durch die Bekanntschaft zur mysteriösen Veronica geraten jedoch zunächst Fabians, dann Alejandras Leben und Verständnis von Liebe, Sex und Begehren aus den vorgegebenen Bahnen und zuletzt vollends durcheinander. Denn Veronica eröffnet den Geschwistern den Zugang zu einer Welt außerhalb ihres beschränkten Daseins: In einer Hütte im Wald bringt sie beide – eingebettet in großartige Naturaufnahmen und schwebende Kamerafahrten – in Kontakt mit der Kreatur aus dem Weltall, deren Wesen hingebungsvolle Lust wie heilloses Verderben gleichermaßen bedeuten kann.

Alejandra und Fabian empfinden und verkraften die Bekanntschaft mit der reinen Sexualität des Außerirdischen denn auch äußerst unterschiedlich. In jedem Fall aber fegt die Kraft der Begegnung mit dem Fremden ihr gesamtes bisheriges soziales Umfeld hinweg – ähnlich wie in „Teorema – Geometrie der Liebe“. In Pasolinis brillanter Parabel von 1968 wird eine italienische Familie gleichfalls durch einen rätselhaften Neuankömmling mit Erotik von ihrer Gefühlskälte erlöst und zahlt dafür einen hohen Preis. Tod und Befreiung aus engen unterdrückenden Verhältnissen liegen hier wie da dicht beieinander.

 

Genremix mit Impact

In „The Untamed“ prallen Elemente des naturalistischen Kinos ungebremst auf solche des Exploitation- und Fantasyfilms. Dass das an keiner Stelle ins Lächerliche abgleitet, liegt zum einen an der Ruhe, mit der Escalante Sozialdrama und Genrezitate zu einem stimmigen Ganzen montiert; zum anderen am erstklassigen Ensemble, das ihm zur Verfügung steht. Vor allen anderen sind hier die beiden weiblichen Entdeckungen Simone Bucio und Ruth Ramos zu nennen, von denen in Zukunft hoffentlich noch viel zu sehen sein wird.

Ebenfalls wesentlich zum Gelingen trägt die exzellente Kameraarbeit von Manuel Alberto Claro bei. Der chilenisch-dänische Kameramann hat sich seine Meriten zuvor unter anderem bei Lars von Triers „Melancholia“ und „Nymphomaniac“ verdient.

Und nicht zuletzt zeigt auch die an HR Giger geschulte Kreatur aus der renommierten Special Effects Schmiede Ghost in den wenigen kurzen Momenten, in denen sie zu sehen ist, was Computeranimation im Film heute zu leisten im Stande ist.

Alles in allem gelingt es Escalante mit dieser ersten mexikanisch-dänischen Koproduktion überhaupt, seinen kinematographischen Ansatz zu erweitern, ohne mit ihm zu brechen. Die staubtrockene Gewalt der Vorgängerfilme hat er gegen nur auf den ersten Blick groteske Anleihen aus Science Fiction und Body-Horror eingetauscht.

Um die Grenzen des eigenen Filmemachens zu sprengen und neue Wege aus allem Anschein nach kaum überwindlichen gesellschaftlichen Verkrustungen zu ertasten, scheint die symbolhafte Beschwörung eines nicht zu bändigenden psychologischen „Es“ jedenfalls eine vielversprechende Möglichkeit. Sicher kein Film für die ganze Familie, aber ein würdiger Träger des Silbernen Löwen.

Bild: Forgotten Film Entertainment