Alte Meister oder: Durch den Keller ins Licht

Jarvis Cocker – Nerd-bebrillter Kunststudenten-Cousin von Nick Cave, Marc E. Smith und Morrissey – steht gegenüber vor der Apotheke. Das heißt er steht nicht eigentlich, sondern lümmelt lässig am Geländer der Beeinträchtigten-Rampe und wartet. Auf seine Freundin, den Manager, die Ankunft eines Taxis oder eine Inspiration; das lässt sich vom Fenster aus nicht entscheiden. Vielleicht genießt er bloß die Aprilsonne, die dem Nachmittag eine Ahnung von Sommer schenkt.

Mit Pulp hat er einst die Neunziger mitsummbar gemacht. Das überfällt mich, als ich auf die Straße trete, in die überraschende Hitze und den Wahnsinn aus kurzen Röcken, Haaren und Bewegung, wie lang vergessener Hunger nach richtig leben; nach Verbindung mit der Welt, Verschmelzung, Schönheit, Kunst; ich blinzele in die Helligkeit, will alles auf einmal – und zwar sofort. Wie damals, als wir noch in Ruinen feierten und Bezirke groß soffen. Als es um eine neue Stadt ging, um neue Namen, neue Musik, neue Tänze und neue Formen. Alles sollte Kunst sein, und das Neue das Wesen von allem. Deshalb ist die Welt heute so voll.

Jarvis steht mittlerweile ein Stück weiter die Straße runter vorm Plattenkeller. Seine Freundin, auf die er eben noch vor der Apotheke hatte warten müssen, ist aufgetaucht und knapp hundert Meter Hand in Hand mit ihm spaziert; jetzt hat sie es aber schon wieder eilig, anderswohin zu kommen. Will jedenfalls nicht mit in den Laden, der – man sieht es an der Tüte von der Konkurrenz aus der nächsten nördlich gelegenen Querstraße – nicht der erste Sammler-Ort auf ihrem gemeinsamen Weg ist.

Also hält Jarvis ihr ein Taxi an, sie steigt ein und verschwindet, während er den Plattenhändler besucht. Meinen Plattenhändler.

Er trägt noch den Cordanzug, den er zwei Tage vorher bei der Präsentation seiner Chateau Marmont-Platte mit Chilly Gonzalez auch getragen hat. Kann allerdings genau so gut sein, dass er diesen Anzug, der etwas wie sein aktuelles Markenzeichen ist, mehrfach besitzt.

Warum interessiert mich das? Im Allgemeinen bin ich der letzte, der sich öffentlich für alte Helden begeistert; beim Nachhören im Internet habe ich die aktuellen Aufnahmen für mich sogar unter wenig inspiriert, wenn nicht gar launig gelangweilt verbucht. Da gibt es in der aktuellen Popmusik andere Strategien, die zu verfolgen um einiges interessanter scheint. Doch darum geht es nicht. Wie so oft geht es einzig und allein um das real abstrahlende Charisma, das sich, auf Dauer gestellt, im Status verfestigt. Und der ist bei Jarvis nach wie vor und wie es scheint auf ewig: Idol.

Quatsch: ewig! Nichts hält ewig. Auch Idole verlieren an Prägnanz und Ausstrahlung. Zum Beispiel Distelmeyer. Wie wichtig der einmal gewesen ist, als er uns in poetisch-verquasten Texten über Jahre die Verquastheit von allem und vor allem die unserer Beziehungen erklärt hat. Und wie er sich dann später durch seinen lächerlichen Roman und die noch viel lächerlichere andauernde Verteidigung desselben selbst auseinandergenommen hat. Mythos weg, Typ noch da, sieht man ständig in der Gegend. Ist aber ganz egal, weil: Prägnanz futsch.

Aber die Prägnanz ist der Kern der Sache. Man muss wiedererkannt werden mit seiner Position, muss auf Sendung sein, und das gelingt diesem Körper wenige dutzend Meter vor mir immer noch ganz gut, selbst wenn er es im Moment gar nicht darauf anlegen sollte.

Jarvis ist Pulp, ist Abziehbild seiner eigenen Hochzeit, ist: Different Class, auch wenn der aktuelle Bohemian Style mit Bart und eben Cordanzug eigentlich lang schon wieder eingefangen worden ist und etwas bräsig wirkt.

Trotzdem stelle ich im Kopf bereits Nachforschungen an, wo ich einen ähnlichen Anzug auftreiben könnte. Sieht ja zumindest bequem aus. So, als machte man sich um den Zustand von allem weniger Sorgen als um die eigene Lässigkeit.

Und Lässigkeit könnte ich schon ein bisschen brauchen, etwa wenn ich tagein tagaus auf einsamem Posten vor dem Rechner sitze und alte Dokumente öffne, die ich auf verwertbare Formulierungen hin untersuche; auf Gedanken, die ich einmal gehabt habe, und die mich beim Lesen fürchten lassen, dass ich welche in ähnlicher Qualität nie wieder haben werde. So suche ich Neues im Überholten und drehe mich zwangsläufig im Kreis.

Immer beginnt dann etwas zu jucken oder der Nacken ist verspannt, und ich stehe auf und gehe ins Bad; werde getrieben vom plötzlichen Drang, die Hände zu waschen, der unter Umständen vom nicht weniger dringenden Bedürfnis, rund um die Waschbeckenarmaturen liegen gebliebene Bartstoppeln zu beseitigen, abgelöst wird.

Und sofort denke ich: Ich stehe auf, gehe von meiner Arbeit, die ich nur wenig weiter gebracht geschweige denn erledigt habe, weg und ins Bad, um mich durch die Befriedigung eines gänzlich uninteressanten Waschzwangs abzulenken und so daran zu hindern, etwas von Relevanz zu schaffen, während Jarvis Cocker aufstehen mag und von London (oder wo immer) nach Los Angeles geht, um eine Platte über das fucking Chateau Marmont einzusingen, die dann Menschen in einschlägigen Vierteln bestimmter Metropolen auf der ganzen Welt hören wollen.

Doch jetzt ist Jarvis im Keller bei meinem Plattenhändler und damit sozusagen an einem Ort, der zu meiner Privatsphäre gehört. Wie es aussieht, hat mir der erste Tag des Sommers die Welt der Zeichen und Bedeutungen in Form eines ihrer – wenn auch in die Jahre gekommenen – Erfolgsmodelle nach Hause geschickt, wie um mir zu erzählen, dass ich sie nicht ausblenden, mich ihr nicht entziehen kann. Bin ich also doch wichtig genug, dass man mich noch nicht verloren geben will? Ich gebe zu, ein wenig Beachtung durchs große Ganze ist nicht das Schlimmste, das einem zustoßen kann.

Was also tun?

Am besten geh ich mal runter und frage nach.

 

Nachtrag: Ruhm

Was immerhin zur Folge hat, dass es tatsächlich zu fünf Minuten Sicht- und Vernehmbarkeit im mehr als vollen Schokoladen am späten Abend des 23. Januar kommt. Schön. Und kurz. Und wieder vorbei.