Nichts ging. Noch immer stand die Straßenbahn; nach wie vor sah Henning direkt auf die Leiche hinab. Es war ein Verkehrsunfall gewesen. Ein Mann war in der Dunkelheit des Morgens direkt vor ein Auto gelaufen. Sein Körper hatte dem Aufprall auf die in Beschleunigung begriffene Karosserie nicht standhalten können; der Aufschlag auf die starre Härte des Asphalts Sekundenbruchteile später gab ihm den Rest. Jetzt war er tot. Jedenfalls rührte er sich nicht und verursachte einige Aufregung im einsetzenden Berufsverkehr. Durch die mit Werbung teilbeklebte, vom Schneeregen nasse Scheibe war es Henning unmöglich, das Gesicht des Verunglückten zu erkennen. Den größten Teil der Zeit über wurde es außerdem von den Rücken anderer Personen verdeckt, die sich um die Unglücksstelle scharrten oder zwischen Unfallwagen, Fahrer und Opfer hin- und herliefen. Henning presste, um das Geschehen besser verfolgen zu können, die bemützte Stirn ans kalte Glas, als auf einmal eine Frau, die in etwa in seinem Alter sein mochte, herbeistürzte, um sich auf den Leichnam zu werfen. Voller Inbrunst klammerte sie sich an den Toten, als könne sie ihn durch ihre Kraft fest und im Leben halten. Henning gelang es nicht, den Blick von diesem alles Übrige relativierenden Schauspiel abzuwenden. Dabei hätte er, nachdem die erste Welle der Neugier abgeklungen war, schon aus Pietät nichts lieber getan. Niemand in der Bahn sagte etwas. Wenn ich mehr ich wäre, dachte Henning, würde ich etwas empfinden, das die Distanz zwischen mir und den Ereignissen aufhebt. Dann endlich, nach langen Minuten kamen zwei Sanitäter, lösten die Frau von dem leblosen Körper und führten sie mit sanfter Gewalt fort. Ein dritter deckte den Leichnam mit einer Plane zu, und schließlich setzte sich die Bahn wieder in Bewegung. Einer nervösen Gewohnheit folgend zupfte Henning Schal und Jacke zurecht.