Dass sich die Welt mit dem Jahreswechsel groß ändern würde, stand auch nach der neuerlich verpassten Chance auf ihren Untergang am 21. Dezember nicht zu erwarten. Vor allem, was bestehende Ressentiments, Vorurteile, Stereotypen, Ideologien und deren Versatzstücke angeht. Deutlich wird das immer dann, wenn resümierend auf die vergangenen zwölf Monate zurückgeblickt wird. Beispielsweise in Form von Top Ten Listen wie der des Simon Wiesenthal Centers mit dem Titel 2012 Top Ten Anti-Israel/Anti-Semitic Slurs: Mainstream Anti-Semitism Threatens World Peace.

Klar kann man fragen, ob die Bedeutung eines Jakob Augstein mit einem 9. Platz unter den gefährlichsten antisemitischen Verunglimpfern des Jahres nicht vielleicht überschätzt wird. Sicher werden viele die Nase rümpfen und fragen, ob man nicht endlich mal über anders reden könne – zum Beispiel darüber, dass Henryk M. Broder eine „Witzfigur“ sei und, wahrscheinlich aus bloßer Wichtigtuerei und zum privaten Vergnügen, eine weitere Rufmordkampagne anzettele oder weiterführe, noch dazu in der „Sprache Hitlers und Goebbels'“, wie in der Berliner Zeitung zu lesen. Aber es gibt – auch daran ändert sich im neuen Jahr nichts – viele Anzeichen dafür, dass der Antisemitismus in Deutschland noch lange nicht aufgearbeitet und ausgetrieben, sondern im Gegenteil als Einstellung noch immer absolut hegemonial ist.

Nachzulesen ist das beispielsweise in Tuvia Tenenboms Deutschlandreisebuch „Allein unter Deutschen“. Zwar kann man mit Barbara Bollwahn berechtigt Anstoß an der dargebotenen „Sacha Baron Cohen-Attitüde“ nehmen oder nach dem Erkenntnisgewinn des Buches, den sie bei null sieht, fragen. Man kann das Buch und die Umstände seiner Veröffentlichung bei gleichzeitiger Skandalisierung wie Jens Rosbach im Deutschlandfunk für literarisches Fastfood und geschmacklos halten, ohne damit ganz daneben zu liegen. Und auf alle Fälle sollte man die im Buch beständig vorgenommenen Verallgemeinerungen und Fortschreibungen von Kategorisierungen – angefangen bei „die Deutschen“ – kritisieren. Das hilft aber alles nicht über die Feststellung hinweg, dass es in Deutschland sehr wohl eine antisemitische Grundhaltung gibt, über die viel mehr gesprochen und geforscht und die vor allem viel stärker als der Skandal, der sie ist, gebranntmarkt werden müsste.

Sehr schön – und sehr berechtigt – in diesem Zusammenhang auch die Frage, die die Jüdische Allgemeine im Interview zur Top Ten Liste an Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Center stellt: „Warum hat es Günter Grass in diesem Jahr eigentlich nicht in die Top Ten geschafft?“ Antwort: „Sie glauben ja gar nicht, wie schwierig es ist, ein Who’s who der Antisemiten zu erstellen, und dabei niemanden zu vergessen.“