„Hallo Berlin, hier spricht der 10. Mai 2012!“ Antrittsvorlesung Rainald Goetz zur Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik. Wie zu erwarten war, ist der Hörsaal 1b in der Habelschwerdter Allee um kurz vor sechs gut gefüllt. Und selbstverständlich lässt es sich der Autor nicht nehmen, den Titel seines Vortrags, unterbrochen von vielen begutachtenden Verrenkungen – drei Schritte zurück, Abstand gewinnen, Kopf schieflegen und kratzen, drei Schritte wieder vor, zwei neue Buchstaben gemalt usw. – in einer Eingangsperformance in weißer Kreide auf grünen Tafelhintergrund aufzubringen:

leben und schreiben
der existenzauftrag der schrift
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In konzis und konzentriert vorgetragenen Auslassungen in zwölf Kapiteln berichtet der in der Vorstellung vor allem für Frühwerk, Sofortismus und als dabei seiend am Rande Stehender gewürdigte Goetz aus seiner Schreib-, Lese-, Welt-, Sozial- und Schriftpraxis. Erzählt von der Reibung zwischen der ständigen eigenen inneren gedanklichen Hektik und der Nichtwachheit der ihn bereits im morgendlichen Straßenverkehr umgebenden Anderen, die über Gehässigkeit zur Heiterkeit der Differenz führe; von Sätzen, die denken wollen und nicht schauen; von seinem Dämon, der allein sein will und nie mehr schreiben (was sowohl das Soziale als auch die Schrift vergällt); von der Notwendigkeit der Weltkenntniserweiterung; und vom Schreiben, das immer schon Veröffentlichen heißt.

Textpraxis: Jeden Tag das lesen, was man geschrieben hat. Dem eigenen Text als Leser gegenüber treten: Was steht da? Was heißt das? Was sollte es heißen? Die Differenz von Schrift und Gedanken und den Eigensinn der textlichen Verbalität erfahren, die Distanz zwischen Aussageabsicht und dem von der Schrift tatsächlich Ausgesagtem.

Wichtig sei zu lesen. Immer. Alles. Oder fast alles, denn vorsicht: Das Sprachgefühl ist sehr verletzlich. Und die Essenz der Schrift jedenfalls: wie selten das Schreiben gelingt.

Womit er zu seiner Aufgabe im Rahmen der Gastprofessur kommt: Nachwuchsschriftstellern Hilfestellung beim Schreiben zu geben, was natürlich Unsinn sei. Schon weil es Nachwuchsschriftsteller gar nicht geben könne, genausowenig wie Literaturlehrer. Denn Schriftsteller sein heißt immer, an der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Weltdifferenzeinstellung und ihren Folgeproblemen sich abarbeiten. Und das geht nur im eigenen Kopf.

Fazit also: „Interessant: Die meisten Texte sind Mist! Schwach, schlecht, unbrauchbar. Warum? Ich weiß es nicht.“ Und: „Der schlechte Text ist nicht verbesserbar“, darüber hinaus der Kopf keine Werkstatt und Literatur kein Handwerk. Die frohe Botschaft der Literatur lautet hingegen: Mitgefühl. Und schon sind 45 durchaus erbauliche Minuten vorbei.

In dem Zusammenhang bei YouTube anzuschauen: Goetz bei Schmidt 2010 mit „loslabern“. Da ist man sich unter anderem einig, dass „Infinite Jest“ unlesbar und ein wirklich schlechtes Buch sei – auch wenn man das natürlich nicht sagen dürfe, weil im Feuilleton anders entschieden worden sei.

 

 

hauptgebäude

Geht es hier zur Schreibwerkstatt von Rainald Goetz? Unsinn.